Bleich und übelriechend*

Schmerz: Nein, mein Kieferchirurg heißt nicht Dr. Sarrazin...

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Die Spritze wirkt allmählich...... durch die raumhohen Glasscheiben fällt sein Blick auf die schmale Straße hinunter, Touristen und Bauchladenhändler aller Hautfarben bewegen sich in slow motion, eilige Passanten queren die dichte urbane Szenerie...... kaum jemand hebt den Blick zum ersten Obergeschoß......ob sie ihn wohl sehen könnten hinter der Glasfassade in dieser peinlichen Stunde über dem Checkpoint Charlie, dem ehemaligen amerikanischen Kontrollposten?

Der Kieferchirurg beugt sich über ihn: Den Schnitt kann ich horizontal führen, dann werden wir sehen, ob wir den Zahn noch retten können, murmelt er unter dem grünen Gesichtsschutz... Was für ein bösartiger Zufall führt ihn heute in diesen Logenplatz? Gegenüber steht sein Lieblingshaus, hier stirbt jetzt sein erster Zahn, er denkt an seinen Vater, den er vor wenigen Monaten verloren hat...... Zur Vorbereitung seiner Herz-Operation zogen sie alle Zähne. Jetzt habe ich an einem Tag Eure Mutter überholt.... war sein Kommentar..........

Wo wächst diese panische Angst? Wurzelt jeder Zahn tief im Gemüt? Wird man eines Tages den Sitz der Seele im Zahn lokalisieren? Beim Hai wachsen die Zähne nach, denkt er mit einem leichten Anflug von Neid, denn er weiß nicht, wie er sich Geld für den Zahnersatz beschaffen soll. Seit Monaten blüht der feine Eiterherd unter dem bekrönten Backenzahn.....

Der vermummte Chirurg greift mit gummierten Fingern zu, führt ein Instrument, grün auch der Gesichtsschutz der Assistentin, schlürfend saugen feine Schläuche Dünnes und vielleicht Dickes..... Lebhaft wendet sich der Arzt..... holt das Licht tiefer, leuchtet in den offenen Schlund: Sehen Sie hier, ich halte Ihnen einen Spiegel, können Sie es schon sehen...?

Ein Rasiermesser zieht durch den Augapfel der jungen Frau, so beginnt das filmische Vermächtnis der Surrealisten Un chien andalou..... nicht viel angenehmer ist der Blick in eine zerschnittene Mundhöhle.....mit der Bemerkung: Da ist nicht mehr viel.... stochert der Chirurg spitzig in Unbenennbarem....... Sie sehen selbst, der Zahn muss dringend raus!

Jede Widerstandskraft ist geschwunden, die Spritze wirkt, unten vor dem Fenster laufen die Menschen über die Straße, fotografieren sich gegenseitig vor den lächerlich verkleideten Wachtposten, ein fauler Zahn muss raus, der Unterkiefer ist schon angegriffen. Mit geübtem Griff setzt der Chirurg neue Instrumente an, Brecheisen und Fräsen, die Zange und feine Schaber bis auf den Knochen, um das Gemetzel zu vollenden....

Wer weiß, wann der nächste alte Zahn fällt, der ganze Grund mag schon verseucht sein......nach Tattoo und Piercing kommt wohl Skorbutgebiss in Mode...... zahnlose, traurige alte Männer sieht er in einer langen Reihe vorbeiziehen, bevor ihm schwarz vor Augen wird.... schwankend an den Rand der Klippen, alle haben den verlorenen Blick eines Abschiednehmenden:

Pardon, pardon, war doch nur ein böses Märchen,

hätt’ gern das Wort zurückgetrieben,

in das Gehege meiner Zähne......

zu spät, zu spät,

kehrt nie mehr um

in’s Ungeschehene,

Ungeschriebene....



*„Die Beamten laufen bleich und übelriechend herum,

weil die Arbeitsbelastung so hoch ist.“

Thilo Sarrazin im Februar 2002 über Berliner Beamte

Fußnote zum 24. Eintrag vom 17.10.2009: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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