Spektakel der Gewalt

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Gehen wir scheinheilig mit Gewalttätern um? Das erste Jahr Freitag-Salon wird mit einem ernsten Thema beschlossen: „Grauen der Gewalt“. Trotz des schweren Stoffs ging es zeitweise sehr heiter zu.

Wer soll da noch friedlich schlafen: Gewaltberichte aus Berliner Schulen, Amokläufe, der Freitod der Jugendrichterin Kirsten Heisig und ihr Buch über die explodierende Gewalt von Berliner Jugendlichen, U-Bahnschläger, Afghanistankrieg. Wer den Fernseher einschaltet, wird mit Gewaltbilder nur so überflutet und muss den Eindruck bekommen, dass es in unserer Gesellschaft immer brutaler zugeht.
Haben wir denn gar nichts dazugelernt? Wo ist der zivilisatorische Fortschritt? Die Frage von Jakob Augstein, Herausgeber des Freitag, zu Beginn des Freitag-Salon im Maxim-Gorki-Theater am Mittwochabend scheint nur allzu berechtigt.
Doch ganz so schlimm, wie es scheint, ist es womöglich nicht: Die Gewaltverbrechen steigen nicht an, sie tauchen nur in anderer Form auf als früher. Das behauptet zumindest Hans-Ludwig Kröber, einer der renommiertesten Kriminalpsychiater Deutschlands. Der Grund: Die Bevölkerung schrumpft, die Deutschen werden immer älter – und so gibt es einfach weniger junge Männer, die Gewalt ausüben können, so die Darstellung Kröbers. Frauen würden in der Gewaltstatistik ohnehin nicht die große Rolle spielen. Anders als Jungen hätten Frauen mit 15, 16 Jahren den Altersgipfel der Gewalttaten erreicht, „danach lernen sie andere Formen der Gewaltausübung“, sagt der Forensiker mit einem Schmunzeln im Gesicht. Als er von der neben ihm sitzenden Theaterregisseurin Felicitas Brucker, gefragt wird, ob es nicht wie oft behauptet einen Anstieg weiblicher Gewaltverbrechen gibt, schüttelt Kröber den Kopf, hält kurz inne und sagt mit leichtem Vorwurf: „Sie schießen auch zu schlecht.“ Das liege aber nicht an der Veranlagung, sondern am mangelnden Training, sagt er, um das Kichern der knapp 40 Zuhörern zu dämpfen.

So heiter ging es natürlich nicht den ganzen Abend zu. Nachdenkliche Stille kehrte ein, als die Runde über die Gründe für eine relativ neue Gewaltform sprach: Amokläufe durch Gleichaltrige in Schulen. Früher fehlten laut Kröber einfach die Modelle für Jugendliche, heute könnten die über Internetvideos sehen, wie Amokläufer vorgegangen sind. Weltweit gebe es einen exponentiellen Anstieg an Amokläufen, so der Kriminalpsychiater. Warum laufen Jugendliche Amok? Weil sie das Bedürfnis hätten, in der Welt etwas zu hinterlassen und aus der „Belanglosigkeit des Versagertums“ auszubrechen, vermutet Brigitte Maria Bertele, Regisseurin des Films „Nacht vor Augen“. Der Antrieb der Amokläufer: „Ein schicker medialer Auftritt, ein furioser Abgang.“ Erklärungsversuche für ein trauriges Phänomen.

Ein zweites Phänomen, das Kröber Sorgen macht, ist die zunehmende Aggressivität. Es komme heute öfters vor, dass Polizisten oder gar Feuerwehrmänner im Einsatz angegriffen werden. In dem Punkt unterstützt Kröber die Kritik der Jugendrichterin Kirsten Heisig, es gebe zu wenig Gegengewalt: In vielen Fällen bekämen die Straftäter erst nach neun Monaten eine Antwort, manchmal auch gar keine, oder die, dass das Verfahren eingestellt ist. „Da herrscht Feigheit und zu wenig Bereitschaft von staatlicher Seite, Flagge zu zeigen“, sagt Kröber. Und er springt ein zweites Mal Heisig zur Seite: Die Gewalt müsse gleich sanktioniert werden, um die Ursachen müsse sich später gekümmert werden. „Wenn jemand Fieber hat, denkt man ja auch nicht erst mal nach: war der zu lange draußen?“

Welches Erkenntnis brachte die Runde im rotbeteppichten Foyer des Maxim Gorki Theaters? Die, dass die öffentliche Diskussion daran krankt, dass scharfe Fronten aufgemacht werden, wo eigentlich gar keine sind: Gewaltverbrecher werden als krank abgestempelt und ausgegrenzt – gleichzeitig gibt es jedoch oft eine Faszination an dem Gewaltspektakel. „Wir müssen uns fragen, wo haben wir Überschneidungspunkte?“, sagt Felicitas Brucker, die regelmäßig kluge Gedanken in die Diskussion einstreut. In jedem von uns steckt ein gewisses Gewaltpotential. Brigitte Maria Bertele bekennt sogar: „Ich habe auch schon mit Genugtuung Gewalt ausgeübt“ – allerdings habe sie das hinterher reflektiert. Die Frage ist: Wo wird die Grenze gezogen zwischen einer guten Streitkultur, der eigenen Behauptung und der Verletzung von anderen.

Eine zweite Erkenntnis: Es gibt Gesellschaftsschichten, bei denen Gewalt zum Alltag gehört; das mag sehr belastend sein, doch können die Betroffenen oft damit umgehen. Kröbers Beispiel: Ein junger Araber in Neukölln, der sich ein blaues Auge einfängt, kann weiter selbst bestimmen, wie er sich verhält. Anders ein Gymnasiast, bei dem die Vorstellung vorherrscht: Das darf nicht passieren. Für ihn könnte eine Gewalterfahrung viel schlimmere Folgen als das blaue Augen haben, weil er der Situation überhaupt nicht gewachsen und massiv verunsichert wäre. Sicher ein Beispiel, das nur so von Klischees und Stereotypen strotzt, doch ein wahrer Kern mag sich dahinter verbergen.

Forensiker Kröber hätte sich natürlich zu den Gymnasiasten gezählt. Von Natur aus sei er eher ein ängstlicher Mensch, sagt er. Dass er aber trotzdem als Gutachter etwa beim Inzest-Fall von Amstetten die Absichten der Gewaltverbrecher studieren und rekapitulieren, dass er sich den Tätern annähern kann, erklärt er damit: „Die haben die Tat ja schon begangen.“ Träumen müsse er jedenfalls nicht von den Verbrechen der Täter. Bei allem Reflektieren über die Gewalt der Straftäter und der eigenen Gewaltpotentiale ist eine gewisse Distanzierung wohl doch ganz hilfreich.

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