Deutsche Medienwunder (2): Der Straßenchor von ZDFneo

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Nach Ausstrahlung der zweiten Folge von „Der Straßenchor“ erreichte mich eine SMS. „Im Film werden nur Lügengeschichten erzählt ... schade.“ Hatte ZDF-Programmchef Thomas Bellut nicht Mitte Oktober noch von einer „Anständigkeit“ gesprochen, die er unbedingt im Programm haben will? „Wenn wir ein Format wie ‚Der Straßenchor’ mit Obdachlosen machen, müssen wir es verantwortlich tun. Wir müssen dort die Gesetze, die für ein öffentlich-rechtliches Programm gelten, auch einhalten.“ Diesen Widerspruch gilt es aufzuklären. Doch der Reihe nach.

Das ganze begann für mich am 29. August. Da war ich mit anderen Sängern aus dem Charlottenburger Kammerchor auf dem Weg zu Renates und Yilmas Doppelgeburtstag. Als wir an der 12-Apostel-Kirche vorbeikamen, fragte mich Stefan, unser Chorleiter, ob ich Zeit und Interesse hätte bei einer Fernsehsendung mitzumachen. Ein Chorprojekt mit Obdach- und Arbeitslosen. Das ganze sei in Australien schon als„Choir of hard knocks“ erfolgreich gewesen und müsste eigentlich auch in Berlin funktionieren. Er und die Ufa Entertainment GmbH, die auch GZSZ für RTL produziert, hätten jetzt einen Sender gefunden, der das ganze kauft und finanziert. Chorproben und Dreharbeiten fänden ab nächster Woche im Gemeindehaus von 12-Apostel statt. Mitsingen dürften Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger und sozial Engagierte, die aber sichere Sänger sein sollten.

Neugierig, wie ich bin, sagte ich Ja. Noch ahnte ich nämlich nicht, dass aus den ursprünglich angesetzten 4 Stunden pro Woche nach und nach ein echter Fulltimejob werden sollte. Eine Gage gab’s nicht, dafür aber jedes Mal etwas Warmes zu essen, viel zu trinken, jede Menge Spaß und ein Abenteuer, das seinesgleichen sucht.

„Ich weiß auch, dass man in dieser Gruppe, glaub ich, nicht allein gelassen wird, egal, wie brutal es ist, es hilft mir immer irgendeiner“, resumiert Stefan in Folge 3. Ihm war neben der ehrlichen Begeisterungsfähigkeit die hohe Sozialität dieser freiheitsliebenden Menschen aufgefallen. Wer nichts mehr zu verlieren hat, kann über Konventionen kaum gesteuert werden. Er kann sich leisten, authentisch zu sein. Genau dadurch kann man auf ihn zählen – und das sogar dann, wenn einem konventionsgesteuerte Zeitgenossen schon den Rücken zuwenden.

Die Sendung widerlegt auch ein anderes Vorurteil gegen Obdachlose. Danach müsste ein solches Chorprojekt schon im Ansatz fehl gehen, weil Obdach- und Arbeitslose bekanntlich größtenteils ein Alkohol- oder Drogenproblem haben und nicht das Problem, nicht singen zu dürfen. Die Praxis zeigt statt dessen, dass sich die Teilnehmer zwischen dem einen oder dem anderen entscheiden müssen. Wer sich zudröhnt, kommt beim Chorsingen nicht mit.

Allerdings muss man genauso klar sehen, dass dieses Wunder nur funktioniert, weil es von Dritter Seite finanziert wird – aus öffentlich-rechtlichen Rundfunkgebühren und aus dem Defizit der Ufa (bei diesem Auftrag). Was nach dem 15. Dezember aus dem Chor wird, wenn die Staffel abgedreht ist, weiß niemand mit letzter Sicherheit.

Damit es dann weitergehen kann, wird schon jetzt mit einem riesigen Promotion- und Merchandising-Aufwand dafür gesorgt, dass ganz schnell der ganz große Erfolg kommt. Und wie es aussieht, ist der tatsächlich machbar – mit etwas Geld, guten Beziehungen und einem überzeugenden Produkt wie dem Straßenchor. Für dessen Vermarktung muss nun eine Marke geschaffen – mit anderen Worten: Ein Mythos kreiert werden, der mit aller Gewalt ins öffentliche oder öffentlich-rechtliche Bewusstsein gerückt wird.

In allen Städten ist jetzt für den Chor plakatiert. Werbespruch „hier singen die, die Deutschland nicht sucht“. Zur Primetime laufen Trailer dafür im ZDF-Hauptprogramm. Während andere Bands erst Jahre üben und tingeln müssen, bevor sie die erste CD aufnehmen dürfen, spielt der Straßenchor seine erste – mit neun gecoverten Erfolgstiteln - schon nach 6 Wochen ein, natürlich beim Top Label Sony Ariola und im Berliner Hansa Tonstudio, wo vor ihm schon Falko, Peter Maffay oder Udo Jürgens ihre Erfolge generiert haben. Danach folgen Auftritte beim ZDF-„Fest der Freiheit“ am 9. November oder am 18. mit Heinz Rudolf Kunze in Eberswalde. Ein Clip zur CD-Auskoppelung „Wunder geschehen“ wird zum Werbeträger, ein Buch über den Chor erscheint mit Fotos von Peter Eichelmann im vive!verlag, nach dem Bericht im öffentlich-rechtlichen Mittagsmagazin zum Serienstart ist für den Schluss ein Live-Auftritt im sendereigenen Frühstücksfernsehen geplant, morgen eine bundesweite Pressekonferenz im ZDF-Hauptstadtstudio, übermorgen Fotoshootings bei den Proben für Bild-Journalisten, nachdem deren BILD-Kollegen schon heute die Sängerinnen und Sänger exklusiv vorab ablichten durften.

Das alles muss in einem Zeitfenster von gerade mal drei Monaten passiert sein. Am 15. Dezember ist die Sendung abgedreht, und dann ist entweder der Erfolg da – oder kein Geld mehr, um weiterzumachen. Doch die Rechnung scheint aufzugehen. Schon nach der zweiten Folge gingen aus der ganzen Republik ungefragt Angebote für Auftritte ein, aus denen der Chor die weitere Arbeit refinanzieren könnte. Das und der donnernde Applaus eines bis dahin eher braven Publikums beim Kunze-Konzert in Eberswalde zeigen, dass auch die Merchandising-Produkte ihre Käufer finden werden. Ein Straßenchor scheint tatsächlich das zu sein, was Deutschland im Hartz-IV Zeitalter hören und sehen will: Der singende Aufstand des sozialen Gewissens.

Doch der Erfolg hat seinen Preis. Das strapazierte Budget der Produzenten ist nur ein Teil davon. Der andere ist die Entmündigung von Sängern und den Zuschauern.

Letzteres ist vor allem an der Eile geschuldet, mit der das ganze aus dem Boden gestampft werden muss. Man kommt nicht umhin den Beteiligten Vorgaben zu machen, ihnen ein Tempo abzuverlangen, bei dem sie kaum mithalten können. Dagegen wehrt man sich naturgemäß. Es kommt zu Aufständen und Krisen. Die wiederum machen die Sendung noch spannender. Nur leider hat immer die Produzentenseite – obwohl Konfliktverursacher – die Deutehoheit. Der Zuschauer erfährt nur das, was er erfahren soll. Und das ist – um noch einmal auf die SMS vom Anfang zurückzukommen – nicht immer die ganze Wahrheit. Manchmal nicht mal die halbe. Faketuell Entertainment - oder Fernsehen, wie es leibt und lebt. Schade, aber vielleicht in Ordnung, wenn es Menschen hilft. Sie müssen nur aufpassen, dass sie ihm nicht ihre Seele verkaufen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

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