Anmerkungen zum Neoliberalismus

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Es gab in der Debatte auf Freitag.de ein paar heftige Reaktionen auf meinen Gebrauch des Wortes "Neoliberalismus" und meine Auffassungen dazu. Einige Kommentatoren fanden schnell den assoziativen Weg zu Pinochets Folterstaat oder gar zum deutschen Nationalsozialismus. Das ist überraschend. Offenbar verstehen diese Kommenatoren das Wort "Neoliberalismus" nicht als einen Begriff aus der politökonomischen Sphäre, der ein bestimmtes wirtschaftspolitisches Lehrgebäude bezeichnet, das man mit mehr oder weniger guten Argumenten stützen oder kritisieren kann. Ihnen ist das Wort stattdessen zum politischen Kampfbegriff geworden, den man nur mit Abscheu aber niemals nüchtern verwenden darf.

Es ist darum vielleicht ganz hilfreich hinter das Wort zu schauen. Auf den Gegenstand, der damit bezeichnet werden soll.

Es geht in der Debatte um die Grenzen des Staates. Das Thema liegt ja an, weltweit und in Deutschland. Der Ökonom Rudolf Hickl hat im Freitag gesagt, dass die Bundesregierung in ihrer Politik der Krise gegenüber "völlig orientierungslos" sei und "quasi im Blindflug" handele. Es fällt der Politik offenbar schwer, die Grenzen des Staates zu justieren. Dabei ist der Vorgang nicht so ungewöhnlich. In den westlichen Gesellschaften, zumindest den europäischen, schwelt die Frage immer unter der Oberfläche: Die Frage nach dem Verhältnis von öffentlicher und privater Macht. Sie ist nie einheitlich und nie ein für alle mal beantwortet worden. Je nach zeitlicher Phase und nach wirtschaftskultureller Prägung haben sich die Staaten für sehr unterschiedliche Machtbalancen entschieden. Es gibt nicht den einen Kapitalismus sondern viele Kapitalismen.

Weil in den westlichen Systemen kapitalistische und planerische Mechanismem gemeinsam wirken, nennt man sie im englischen Sprachgebrauch "mixed economies". Das Mischungsverhältnis ist jeweils ein anderes und das Spektrum reicht vom schwedischen Wohlfahrtsstaat bis zu den US-amerikanischen Reagonomics. Darin spiegelt sich die Anpassung des Kapitalismus an die jeweiligen Zeitumstände und an die Wirtschaftskulturen wieder.

Großbritannien etwa hatte nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wirtschaftsystem etabliert, in dem ein starker staatlicher Einfluss alltäglich und akzeptiert war. Dafür prägte sich der Begriff der "Keynesian Social Democracy". In England begann dieses System im Jahr 1944 als die Kriegskoalition ihre Nachfolger auf einen hohen Beschäftigungslevel verpflichtete. Es endete ziemlich genau im Jahr 1976 als der damalige Premier Callaghan auf einer Labour Konferenz sagte, dass alle Versuche, Vollbeschäftigung durch eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben zu erreichen nur dazu geführt häten, "eine höhere Dosis Inflation ins System zu pumpen". Im gleichen Jahr musste England einen Stützungskredit des Internationalen Währungssystems in Anspruch nehmen.

Die englische Debatte war in dieser Zeit bereits von einer starken Polarisierung geprägt. Labour wurde von neo-sozialistischen Ideen erfasst, die Tories entwickelten sich zu Neo-Liberalen. Aber in einem Punkt waren sich Neo-Sozialisten und Neo-Liberale einig: Die Idee eines irgendwie gearteten dritten Weges zwischen Staat und Markt, zwischen Kapital und Arbeit, zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit hatte sich überholt. Der englische Politiker und Publizist David Marquand hat über diese Entwicklung ein sehr lesenswertes Buch geschrieben: "The unprincipled Society", in dem er das Zerbrechen des englischen Nachkriegsmodells beschreibt und die von ihm beklagten Umgestaltung Großbritanniens unter Margaret Thatcher. (Marquand war in den achtziger Jahren ein Mitbegründer der Social Democratic Party und hat auch sehr viel für den Guardian geschrieben, mit dem der Freitag bekanntlich kooperiert.)

Der englische Weg in den Neoliberalismus ist ohne die dreißig vorhergehenden Jahre nicht zu verstehen. Er ist gewiss nicht auf den sinistren Einfluss einiger düsterer Ökonomie-Professorren zurückzuführen. Es steht dahinter eine lang anhaltende Entwicklung in der englischen Wirtschaft und Politik, die gekennzeichnet ist von Deindustralisierung, Dekolonalisierung, einer schwieriger Annäherung an Europa und dem Verlust des Pfundes als internationaler Währung, um nur ein paar der wichtigsten Faktoren zu nennen. Mit einem Wort: Die Sache ist komplex. Und anders wäre es auch kaum zu erwarten, wenn eine ganze Gesellschaft ihre volkswirtschaftlichen Paradigmen ändert.

Was war der Grund für den englischen Kurswechsel? Wahrscheinlich würden die Ansichten in der Leserschaft dazu weit auseinander gehen. Zu den Ingredientien einer Erklärung können gehören: Der Einfluss des internationalen Finanzkapitals, US-amerikanisches Dominanzstreben, Überlastung des staatlichen Wohlfahrtsystems, Auflösung eines gesellschaftlichen Konsens über gerechte Verteilung, Anpassung der Erwartungen der Tarifparteien an das Verhalten der Regierung ...

Die neoliberale Revolution war in jedem Fall das Produkt einer historischen Entwicklung, eine Reaktion auf sich verändernde Umstände - und in ihrem Verlauf ordneten viele westliche Staaten in den siebziger und achtziger Jahren das Verhältnis von staatlicher und privater Macht neu.

Das augenfällige Beispiel dafür ist die Neubewertung dessen, was in den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge fällt, für die der Staat zu sorgen hat - die Privatisierungen. Hier gibt es freilich keine Wahrheiten zu finden. Nur Ansichten.

Personennahverkehr, Wasser, Strom, Ernährung, Straßen, Renten, Telekommunikation, Autokennzeichen, Schulen, Strafvollzug ... Was ist des Staates? Was des Marktes? Was soll die Behörde erledigen? Was die Firma? Das sind Wertfragen. Keine Wahrheitsfragen.

Grundsätzlich gibt es viele Gründe anzunehmen, dass private Unternehmen effizienter arbeiten als staatliche Stellen - darum wartet man heute nicht mehr so lange auf seinen Telephonanschluss wie in den siebzigern. Und grundsätzliche gibt es viele Gründe anzunehmen, dass unternehmerische Effizienz nicht immer das ausschlaggebende Kriterium ist.

Es gibt allerdings keinen Grund zur Annahme, dass Deutschland von der neoliberalen Revolution ähnlich erfasst und verändert wurde wie etwa Großbritannien. Die Regierung Schröder hat mit der Agenda 2010 die Soziale Marktwirtschaft erheblich verformt. Von einer Abschaffung kann freilich keine Rede sein: Die Staatsquote betrug im Westen Deutschlands im Jahr 1960 weniger als ein Drittel der Wirtschaftsleistung, 1975 lag sie bei 49 Prozent und seit den neunziger Jahren liegt sie bei annähernd 50 Prozent. Ende Oktober vergangenen Jahres bemerkte Finanzminister Peer Steinbrück auf einer Tagung in Frankfurt, dass von jedem Euro, den er an Steuern einnimt 70 Cent in irgendeiner Form in den sogenannten "Sozialbereich" wandern. An diesen Zahlen gemessen, ist der Einfluss des Staates im Wirtschaftsleben beständig gestiegen.

Als Angela Merkel sich anschickte, Bundeskanzlerin zu werden, gab sie vor, das ändern zu wollen. Die Merkel des Jahres 2003 kündigte an, dass die Staatsquote binnen eines Jahrezehnts auf 40 Prozent gesenkt werden sollte - um "individueller Dynamik in Deutschland wieder eine Heimat zu geben", wie sie in einem Brief an die Abgeordneten der Union im Januar formulierte. Sie hat von diesem Vorhaben - zum Leidwesen konservativer Kommentatoren - bekanntlich abgelassen nachdem sie Kanzlerin geworden war. Ein Zeichen entweder dafür, wie schwach Angela Merkel ist - oder dafür, wie stark die traditionellen wirtschaftskulturellen Prägungen in Deutschland sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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