Blickwechsel

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Ist es wirklich ungehörig, in der Öffentlichkeit andere Menschen länger als drei Sekunden anzublicken? Und stimmt es, dass man Aggressionen hervorruft, wenn man es länger tut?
Das hat kürzlich im Fernsehen ein Verhaltenstrainer postuliert.

Noch ein Rezept von diesem Menschen ging so: Wenn man seinen Weg ohne Ausweichen machen will, dann müsse man die Blicke der Entgegenkommenden meidend über sie hinwegsehen. Dann wichen sie von allein aus. Ich habe das mal probiert und es funktioniert in der Tat. Aber es gefällt mir nicht.

Immer bin ich gekränkt, wenn die Fahrradfahrer einem auf dem Fußweg entgegen gejagt kommen und dabei den Blick in die Ferne richten, als sei man ein Gegenstand in der Landschaft. Nichts als ein Hindernis zu sein, das schafft erhebliche Zweifel am Wert der eigenen, mühsam entwickelten Persönlichkeit und an der Berechtigung der eigenen Existenz.

Noch ein hübsches Postulat: Man erkenne den Unterschied zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen unter anderem auch daran, wie lange sie im öffentlichen Raum Blickkontakt pflegen. Das stand kürzlich mal in einer Buchrezension. Die Ostdeutschen blickten immer zu lange und eindringlich, was zu Irritationen auf "westlicher" Seite führte. Das aber stimmt nicht, wenn man es als Ost-West-Blickwechsel-Problem interpretiert.

Im Buch der Autorin Sigrid Damm über eine Schottland-Reise schildert sie einen Kneipenaufenthalt und da fand ich den tröstlichen Satz:„Der Blickkontakt, der sofort zu Gesprächen führt, auch über Tische hinweg“.
Es muß einfach an den Völkerschaften liegen. Die Deutschen gelten ja weitgehend als Menschen mit mürrischem Wesen, die nicht lächeln könnten. Jedenfalls klagte kürzlich eine Journalistin darüber. Dem wollte ich nun abhelfen und bemühte mich immer mal wieder um ein Lächeln. Deutsche blicken einen meist ratlos an oder peinlich berührt weg. Nachdem nun eine türkische Journalistin ihrerseits einen flammenden Artikel geschrieben hatte über die Angst der Türken über den im Osten liegenden Alexanderplatz zu fahren, weil dort die Menschen nie lächelten und immer aggressiv seien, wollte ich auch hier mal sehen, was da dran ist.

Also: Wenn ich eine Türkin in der U-Bahn anlächle, bekomme ich meist auch einen so irritierten Blick zurück, dass ich mir das lieber verkneife. Es muss einfach ein Anlass dafür da sein.
Männer darf man gar nicht anlächeln, und schon gar nicht darf man sie finster ansehen weil - das hat die verheerendsten Folgen. Einmal habe ich in der U-Bahn-Unterführung einen jungen Menschen zu lange mißmutig angesehen, ich glaube es ging auch um Ausweichen. Eine Kanonade wüstester Beschimpfungen war mein Lohn, der mir den ganzen Tag vergiftete. Aber, wenn es mir gelingt, auch mal wieder mit jemandem im immer feindseliger werdenden öffentlichen Raum in Kontakt zu treten, dann freue ich mich. Leider geschieht es meist nur, wenn es gilt, einander die Unzumutbarkeit verkehrstechnischer Einschränkungen zu bestätigen.

Wenn man sehen will, wie Deutsche einander frohgemut bestätigen, dass das Leben lebenswert is oder die Sonne scheint, muß man sich alte Heimat- und Revuefilme ansehen. Da wird das einander zugesungen. Zum Beispiel Roy Black und eine gewisse Anita singen da: "Schön ist es auf der Welt zu sein". Aber niemand nahm sich früher ein Beispiel und heute schon gar nicht mehr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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