S21 - Warum man keinesfalls mehr dafür sein kann (und darf)

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Wer allen Ernstes noch für das Projekt „Stuttgart 21“ eintritt, streitet, es verteidigt oder relativiert, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er sich damit nun unweigerlich und eindeutig die Hände schmutzig macht. Mindestens offenbart man dergestalt, was man tatsächlich von Demokratie und ihrem Zustand im real existierenden Deutschland dieser Tage hält. Wenn man nicht gar -nach Amt und Würden bemessen- sich an eindeutigen Straftaten direkt oder mittelbar beteiligt. Von der moralischen Verwerflichkeit oder bizarr verformten Charakteren, von krudem Denken und einem faschistoiden Menschenbild, die solches Verhalten evoziert, soll im Einzelnen und zuvorderst hier nicht die Rede sein.

Spätestens seit dem 30. September, dem Stuttgarter „Bloody Thursday“, kommt eine weitere Befürwortung von „Stuttgart 21“ qualitativ einer Relativierung von Menschenrechtsverletzungen gleich. Zugespitzt gesagt und um die Qualität zu verdeutlichen: dem liegt im Ansatz eine Denkweise zu Grunde, die den Umstand des Baus der Reichsautobahnen als unbestreitbaren Pluspunkt für die Nazis goutiert. Nach der massenhaften Veröffentlichung von Indizien, die die Brutalität und kriminelle Systematik des „Bloody Thursday“ belegen, nach hunderten Zeugenaussagen und Gedächtnisprotokollen und vor allem nach der Aus- und Bewertung der Ereignisse und Zeitabläufe durch kritisch eingestellte Polizisten selbst kann auch niemand mehr behaupten, er habe „von all dem nichts gewusst“.

Der gesellschaftliche Schaden, der durch nicht erfolgte Rücktritte auf Landes- und Bundesebene bisher entstand und weiterhin entsteht, ist so gewaltig, dass er selbst juristisch nicht mehr reparabel scheint. Politisch-moralisch ohnehin nicht. Darüber hinaus ist beispielsweise die Teilnahme des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus an den sogenannten Schlichtungsgesprächen -neben der Tatsache, dass es einen Affront gegen die zahlreichen Opfer des „Bloody Thursday“ darstellt- eine stillschweigende Akzeptanz der mutmaßlich und offensichtlich kriminellen Verstrickungen dieser Person. Wer dessen Auftritt (und den weiterer mutmaßlicher Verbrecher) am vergangenen Freitag im Stuttgarter Rathaus beobachtete, kommt nicht umhin festzustellen, dass ein beabsichtigter Zweck dieser „Schlichtung“ vor allem darin besteht, mutmaßliche Kriminelle ohne eingeleitete oder gar erfolgte juristische oder politische Aufarbeitung a priori und öffentlich zu rehabilitieren. Rücktritte erfolgen auch aus einem weiteren schlichten Grund nicht: man verlöre dadurch seinen Einfluss auf Judikative und Exekutive und vor allem seine gewisse und zugestandene parlamentarischen Immunität.

Gestern fanden sich in Stuttgart nach Angaben der Stuttgarter Polizei etwa 7.000 Menschen zu einer gut organisierten und bestens ausgestatteten Veranstaltung „Pro-S21“ zusammen. Redner waren u.a. Erwin Teufel (ehemaliger Baden-Württembergischer Ministerpräsident), Bahnchef Rüdiger Grube und die amtierende Baden-Württembergische Verkehrs- und Umweltministerin Tanja Gönner. Am Schluss intonierte eine gekaufte Sängerin „We shall overcome“ und animierte die Anwesenden zum Mitsingen. Kleine Papierfähnchen in grafischem 70-iger-Jahre-Design, in der DDR „Winkelemente“ tituliert, mit der Aufschrift "Ihttp://www.zauberer-piccolo.de/herz.jpg S21" wurden trollinger-selig dazu gewedelt. Womit ich nicht sagen will, dass es auch eine Frage des guten Geschmacks ist, ob man besser gegen S21 sein sollte, sondern versuchen möchte aufzuzeigen, welch' gespenstische Blüten ein weiteres Festhalten an S21 inzwischen treibt.

So betrachtet geht es schon lange gar nicht mehr um die Frage des Zustandekommens oder gar Sinnhaftigkeit eines monströsen Infrastrukturprojekts. Es geht um die apodiktische Frage: „Demokratie – Ja oder Nein.“ Jeder, der dieses Projekt befürwortet (oder „noch keine Meinung dazu“ hat) sollte sich dessen gewahr sein, dass er damit diese Frage ebenso eindeutig beantwortet.

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