Unerhört!

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Dieses Wetter! Im eher mediterranen als Hamburgischen Klima des Südwestens hielt gestern, gefühlt, der Winter wieder Einzug in den Stuttgarter Frühling. Trotzdem kamen etwa 3.000 Menschen vor dem Stuttgarter Rathaus auf dem Marktplatz zusammen, denn dort spielte sich Unerhörtes ab.

Initiiert von Gangolf Stocker und seinem Verein „Leben in Stuttgart – Kein Stuttgart 21“ fand dort die erste, sogenannte „Volksversammlung“ unter dem Motto „Wir reden mit“ statt. Das 'Training des aufrechten Gangs', letzter Exportschlager der untergegangenen DDR, wurde seinerzeit auch in Stuttgart neu entdeckt, schwäbisch modifiziert. Und wird nun fortgesetzt.

Nach nur 21 Tagen im Amt stellte sich der neue, grüne Ministerpräsident B/Ws, Winfried Kretschmann, in einer moderierten „Volksversammlung“ den Fragen der Bürger. -Wobei nicht nur die Tatsache bemerkenswert ist, es nach so relativ kurzer Zeit zu tun, sondern der Umstand, es überhaupt zu tun. Wo gab und gibt es das in diesem Land, dass ein Landesfürst sich auf einen zentralen Platz begibt, um sich dort von Bürgern direkt Fragen stellen zu lassen und diese auch noch beantworten zu müssen? Und zwar keine ausgewählten Fragen; auf dem Platz waren vier offene Mikrofone auf kleinen Podesten platziert, so dass jeder der etwas fragen oder sagen wollte, dies ungehindert tun konnte. Keiner wusste also, was da auf ihn zukam. - Aber welch' ein brachialer Einbruch des Frühlings in Stuttgart (bei diesem Wetter) nach dem langen, missvergnüglichen Winter der 58 Jahre CDU-Einheitsparteienherrschaft in B/W!

Fragen/Statements und Antworten darauf waren auf eine Minute begrenzt; ein freundlicher Gong zeigte die Zeit an. Dass es häufiger Ausnahmen gab, die diese Regel bestätigten, störte meist nicht, war bereichernd, allein, weil ein verantwortungsvoller Regelbruch Neues versucht -was sehr lockernd und verlockend wirken kann.

Es gab eine Reihe wirklich fundierter, kompetenter (und mutiger) Fragen und Feststellungen seitens der citoyens, als auch viele nachdenkliche, authentische und engagierte Antworten von Winfried Kretschmann. Sich gegenseitig Zuhören war angesagt. Es gab natürlich auch nicht so gescheite Fragen, wie es auch ausweichende, sich im Gestrüpp von Parteienpolitik verheddernde, nicht sehr überzeugende Antworten gab. Alles aber war unzensiert, ungeschnitten und vor allem: unmittelbar zu erleben für alle Beteiligten.

Das Thema war nicht festgelegt; es legt sich -in Stuttgart logisch- selbst fest: Es ging fast ausschließlich um Stuttgart21, kristallisiert sich doch darin alles, was derzeit (gesellschaftspolitisch) von Belang ist wie in einer Gretchenfrage. Hierin ging es auch hart zur Sache: Die Bürger wurden immer deutlicher und Kretschmanns Antworten immer weniger verstellt von falsch verstandener Diplomatie. Auch ein Grüppchen S21-Befürworter war anwesend; auch sie stellten Fragen. Nachdem zuvor der SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch (der quasi als 'Vorgruppe' ein kleines Interview gab) durch die Befürworter ausgebuht und ausgepfiffen wurde, zahlte man es den Fragestellern aus dieser Gruppe ein wenig heim: alle müssen noch lernen.

Jedoch: für eine solche Premiere ohne vorherige Probe und ohne Netz und doppelten Boden war das ein sehr viel versprechender Beginn. „Stuttgart steht auf“ -ist der Titel eines Dok-Films von 2010 zum Stuttgarter Protest. Ja, das tut es wirklich.

Am 22. Juni findet die nächste „Volksversammlung“ mit einem Minister der neuen Regierung auf dem Marktplatz statt. Als Gast bei den Bürgern dann: Winfried Hermann, der neue, grüne Verkehrsminister.

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Alexander Schäfer hat fotografische Eindrücke gesammelt.

Videos von Bonatz21.






















Das Video der kompletten "Volksversammlung" hier noch einmal von CamS21 auf bambuser.

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