Ein anderer Blick auf den Herbst 1989

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion



Aus der halben Revolution des Herbst 89 wurde eine ganze Konterrevolution. Diese Thesen vertreten linke DDR-Oppositionelle in der aktuelle Ausgaben der ostdeutschen Zeitschrift telegraph und setzen eine Konterpunkt zur deutschen Einheitshuberei



In den nächsten Wochen und Monaten wird vielüber das Ende der DDR geredet werden. Einigeehemalige Bürgerrechtler werden das heutige Deutschland alsEndpunkt der „Friedlichen Revolution“ in der DDR feiern. Die Autoren und Herausgeber der ostdeutschen Zeitschrift “telegraph“ feiern nicht mit. Mit ihrem gerade erschienenen Doppelheft „Gescheiterte Revolutionen“ halten sie die Erinnerung an eine DDR-Opposition wach, die die Wiedervereinigung nicht zum Ziel hatte. Gleich im Vorwort reden die Herausgeber Klartext:

„Mit dem 20.Jahrestag der gescheiterten Herbstrevolution von 1989 und dem das Jubiläum begleiteten Propagandafeldzug ist die offizielle Geschichtsschreibung offensichtlich am Ziel.“

Der Aktivist der DDR-Umweltbewegung Andreas Schreier spricht von einer halben Revolution in der DDR, der eine ganze Konterrevolution folgte.Mit Verweis auf den DDR­-Oppositionellen Bernd Gehrke sieht Schreier in der überstürzten Maueröffnung einen wesentlichen Grund für diese Entwicklung. Diese Position teilten im November 1989 viele DDR-Oppositionelle, vergaßen sie aber bald, als sie sich zudeutschen Bürgerrechtlern mauserten.Diese Entwicklung machten die telegraph-Autoren nicht mit.Die 19 Aufsätze des aktuellen Heftes widmen sich neben der DDR-Geschichteweiteren gesellschaftlich relevanten Themen. Der Historiker Thomas Klein von der Initiative Vereinigte Linke untersucht die Rolle von Linkssozialisten und antistalinistischen Kommunisten bei der Entstehung derAußerparlamentarischen Bewegung der 60er Jahre. Dabei erinnert er an weitgehend vergessene Theoretiker wie den Marburger Politologen Wolfgang Abendroth, den Linksgewerkschafter Viktor Agartz und den Soziologen Leo Kofler,deren Texten einelinke Bewegung heute zu Kenntnis nehmen sollte.Allerdings geht Klein auf einen Aspekt zu wenig ein. Die meisten der zitierten Linkssozialisten wie Agartz und Abendroth waren durchaus zu Bündnissen mit Kommunisten bereit, die positiv zu den nominalsozialistischen Staaten standen. Abendroth rief in den 70er und 80er Jahren mehrmals zur Wahl der DKP auf. Diese undogmatische Bündnispolitik hätten sichvielleicht auch manche DDR-Linken zum Vorbild nehmen sollen, die noch die Stasi bekämpften, als der BND schon längst Einzug in die ehemalige DDR gehalten hat.

Von der Arbeiterselbstverwaltung zum Selbsthass

Der Historiker Karol Modzelewski erinnerte an die den Versuch der polnischen Opposition 1968 eineArbeiterselbstverwaltung zu etablieren. Davon ist wenig geblieben, wie Tadeusz Kowalik in seinem Aufsatz „Polens dorniger Weg in den Kapitalismus“ zeigte. Kamil Majchrzak untersucht die „Kolonisierung Osteuropas“ und legt dabei auch den Schwerpunkt auf die polnische Entwicklung.„In Polen tragen unzählige Arbeiter einen alltäglichen Selbsthass in sich, der seit 1989 stetig zunimmt“¸so sein ernüchterndes Fazit.Majchrzaks Aufsatz, der die Entwicklung nach 1989in Osteuropa durch die Brille der Thesen von Frantz Fanon betrachtet, verdient eine genaue auch kontroverse Diskussion. Besonders die Frage, wie weit in Osteuropa Teile der Eliten aber auch der Bevölkerung selbst aktive Träger des kapitalistischen Projekts waren, müsste genauer heraus gearbeitet werden.„Die Unterwerfung des widerständischen Ostblocks anno 1989 nahm die Gestalt eines Prozesses an, den der britische Historiker Eric Hobsbawm als „Erfundene Tradition“ bezeichnete. Die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit, die Tradition einer antikapitalistischen Erfahrung sollen schockartig aus dem Bewusstsein der Menschen getilgt werden“, schreibtMajchrzak in Bezug auf die Thesen von Naomi Klein. Für die Kolonisierungsthese fänden sich auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR einige Belege. Da kann man den Mc Carthy-Verschnitt Hubertus Knabe heranziehen, dem es aus dem nordrhein-westfälischen Hamm an die Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen zog. Da kann man auch auf die vielen Wessis verweisen, die mit einer antikommunistischen Siedlermentalität in den Osten gezogen sind. Wenn sie auf Widerstand stoßen, gerieren sie sich als späte Opfer der DDR. Ein solches Exemplar ist beispielsweise der Hamburger Lehrer Helmut Preller, der sich 2004 eine Immobilie im mecklenburgischen Schönberg gesichert hat und jetzt den Eingeborenen Demokratie beibringen will. Die geht im Prellerschen Sinne so. Ein Schönberger Bürgermeister, der von der Bevölkerung mit 72 % gewählt wurde, darf seines Amtes nicht walten, weil er bei der Stasi war. Das war den Schönbergern vor der Wahl bekannt. Aber der Hamburger Siedler gibt trotzdem keine Ruhe.



Gefährliche Klassen

WeitereTexte im telegraph widmen sich internationalen Themen. So erinnert der Venezuela-Experte Malte Daniljuk daran, dass die sozialen Bewegungen in Venezuela mit der Verfassung von 1999 „in einzigartiger Weise politisch privilegiert“ sind. Die Journalistin Heike Schrader berichtet über diegriechische Jugendrevolte vom Dezember 2008. Mit Jean-Marc Rouillan kommt ein Mitbegründer der französischen Stadtguerilla Action Directe (AD) zu Wort, die sich an der RAF orientierte.Sehr interessant ist die Vorstellung der Thesen des französischen Historikers Mathieu Rigouste über den Feind im Innern, der von den ideologischen Staatsapparaten als Fortsetzung des Diskurses über die gefährlichen Klassen vor allem in den BewohnerInnen der Banlineusgesehen wird.Rigoustes Buch „Der Feind im Innern“ gibt es bisher nur auf Französisch und sollte bald ins Deutsche übersetzt werden.

Die Vielzahl der Positionen, die im telegraph zu Wort kommen, macht die Ausgabe zum Vorbild einer linken Debattenkultur, wie sie heute leider nur noch selten zu finden ist.

Wenn Linke zu den Jahrestagen des Mauerfalls nach Linken sucht, die nicht mitfeiern und das auch begründen können, in den AutorInnen des telegraph finden sie DiskussionspartnerInnen.


Peter Nowak

Telegraph 118/119, ostdeutsche Zeitschrift, „Gescheiterte Revolutionen“160 Seiten, 6 Euro,

Er kann bestellt werden über /www.telegraph.ostbuero.de/



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Nowak

lesender arbeiter

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden