Der letzte StudiVZ-Nutzer (Lindberg 25)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel. Diesmal trifft er im Jahr 2012 den einsamsten Menschen der Welt.

2012

Ich muss noch einmal auf das Thema „soziale Netzwerke“ eingehen. Früher gab es tatsächlich neben Facebook noch andere, aber vor allem in Deutschland brachen die immer mehr unter der Allmacht von Zuckerberg zusammen. Das Land war schließlich nicht gerade für seine Programmier-Wunderkinder bekannt. Eine der wenigen Erfolgsgeschichten war das StudiVZ, das jahrelang klar vor Facebook gelegen hatte. Dann aber ging es abwärts, bis das Unternehmen die Zahlen nicht mehr schönreden konnte.

Durch einen Zufall stieß ich im Jahr 2012 auf den letzten StudiVZ-User, Marius P.. Weil er in meinem Stadtteil wohnte, interviewte ich ihn für die Lokalzeitung. Hier ein Auszug.

Woher weißt du, dass du der letzte User im StudiVZ bist?

Weil der vorletzte sich abgemeldet hat. Der Kerl hieß Thomas S. und wir haben uns wirklich super verstanden, haben uns gegenseitig in Gruppen über den anderen lustig gemacht, die der andere dann entdecken musste. Bis zuletzt habe ich ihn angefleht, sich nicht abzumelden. Aber er meinte, seine ganzen Freunde seien nun bei Facebook und StudiVZ werde bald abgeschaltet.

Warum bist du dem Netzwerk damals beigetreten?

Plötzlich erzählten mir die Kommilitonen von diesem neuen Netzwerk namens StudiVZ. Da müsse ich unbedingt beitreten. Wir könnten sehen, welche Kurse der andere belege, welche Hobbys er habe und Nachrichten könnten wir uns auch schreiben. Und dann erst diese verrückten Gruppen. Da gebe es zum Beispiel eine, die heiße „Was kostet die Welt?! Achso...Hm, dann nehm ich 'ne kleine Cola!“ Das sei ja wohl super witzig, oder? Und jeder, wirklich jeder, sei da schon angemeldet. Nur vom Gruscheln solle ich mich fernhalten, das sei echt nervig. Das machten nur Mädchen. Ich zweifelte, meldete mich aber trotzdem an. Seit 3. November 2006 bin ich Mitglied im StudiVZ. Der Gruppe „‘Mein Schatzi und Ich’ Fotoalben sind die Ausgeburt der Hölle“ trat ich vier Tage später bei. Bald verbrachte ich meine ganze Freizeit auf der Website.

Diese schönen Zeiten sind ja nun vorüber. Was machst du den ganzen Tag alleine im StudiVZ?

Heute zum Beispiel war ich den ganzen Tag damit beschäftigt, doch noch einen Nutzer zu finden. Vergeblich. Stattdessen stieß ich auf gespenstische Diskussiongruppen mit Namen wie „Ausflug Sauerland FC Brakel 2009“ und „Junggesellenabschied Markus August 2007“. Der letzte Eintrag dort war vom 22. August 2007: „Geiler Abend, Jungs. Ich bin noch mit zu Katharina gegangen ;-)“

War der Eintrag von Markus?

Ja.

Du musst ja auch einen Haufen Nachrichten von deinen Freunden angesammelt haben. Liest du die manchmal noch?

Ja, das ist ja das einzige, was mir noch bleibt. Bei den meisten habe ich wegen der gelöschten Nutzerprofile aber keine Ahnung mehr, von wem sie sind.
„Hi, lass uns doch morgen mal einen Kaffee trinken gehen, ja?“
„War ne super lustige Aktion von dir. Findet Kirsten auch.“
„Bringste mir dein Referat mit?“

Das kann jeder geschrieben haben. Aber dann gibt es auch jene Nachrichten, bei denen ich genau weiß, von wem sie stammen.

„Na, du schon wieder hier? Sehr schön.“
„Na klar können wir mal telefonieren.“
„Haben wir echt vier Stunden gequatscht?“

Für Mareike warf ich den Vorsatz über den Haufen, niemals zu gruscheln. Sie gruschelte sofort zurück. Uns trennten 400 Kilometer, aber nur zwei Mausklicks.

Wie ging es weiter mit euch beiden?

Darüber möchte ich nicht reden.

Ach komm.

Zwei Monate später lernte sie jemanden auf einer Party kennen. Ihr Profil hat sie im vergangenen Jahr gelöscht. Ach Mareike.

Ein paar Wochen nach dem Interview liefen wir uns im Supermarkt über den Weg. Zwischen Bananen und Ananas erzählte er mir, wie es ihm im StudiVZ ergangen war. Marius P. war doch noch auf einen anderen User gestoßen, er hieß Tom K.. Zuerst hatten sie sich nett unterhalten, doch nach einiger Zeit wollte ihn der Neue davon überzeugen, dass es das Beste wäre, das StudiVZ zu verlassen. Er wurde immer aggressiver. Irgendwann schrieb Tom K. sogar: „Du bist ja immer noch nicht weg. Das ist lächerlich. So kriegst du nie eine Freundin.“ Marius P. hatte das Gefühl, dass er alleine im StudiVZ sein wollte, warum auch immer. Dann gestand Tom K., wer er wirklich war: Ehssan Dariani, der Gründer des StudiVZ, der längst nicht mehr dem Unternehmen angehörte. Er war gekommen, um sich ganz in Ruhe von seinem Netzwerk zu verabschieden.

Am Abend gruschelte Marius P. ihn, am nächsten Morgen meldete er sich ab. Bei Facebook hat er jetzt schon 57 Freunde. Und er hat Mareike angestupst. Fast hätte er gruscheln gesagt.

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