S21: Kapitalismus trifft Frühling. Lyrik trifft Widerstand

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1. Peter Grohmanns Wort zum Sonntag in der Ödnis21

Rede am 10. März 2012

„Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!
Wie gut, dass sie am Sterben teilhaben!
Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich,
während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht.
Dem Vogelflug vertraue ich meine Verzweiflung an.
Er mißt seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab.
Seine Strecken werden sichtbar
im Blattwerk als dunkler Zwang,
die Bewegung der Flügel färbt die Früchte.
Es heißt Geduld haben.
Bald wird die Vogelschrift entsiegelt,
unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken.“

schreibt uns Günter Eich ins Stammbuch. Ich grüß Euch vom Siebenschläfer, von Eichhörnchen und Fledermäusen, von den Hasen auch, vom Großen Mausohr, ja, vom Igel, nicht zu vergessen Grünfink und Amsel.

Ich grüß Euch von den Kindern am Neckartor, den vielen, die im Staubloch leben, dort, wo die Autos Gift und Galle spucken Tag und Nacht in die Lungen viel mal zehntausendfach. Ich grüß Euch vom dummer Wetter, das die Stadt zur Tortur macht, wenn die Bäume fehlen.

Fotosynthese und Inversion. Machtlos sind die Menschen, die hier wohnen müssen, ohne Lobby: Wer spricht schon für Arme und Außenseiter, die hier wohnen müssen, Nachbarn da drüben, für die ihr Park ihr Garten war:

Der Baum redet sie mit dem Vornamen an: Ibrahim und Mustafa, Jalloll und Amira.

PM - 10 - Partikel: Zehn und oder weniger Mikrometer kleine Teilchen. Sie erreichen selbst die feinsten Verästelungen der Lunge, kriechen in die kleinen und die großen Körper.

Krebs.

Feinstaub: der Partner der Welt ist auf beiden Augen blind und zugeknöpft und schwerhörig: In der Stadt der krebskranken Kinder zählen Geschwindigkeit und Profit.

Dabei sollt ihr wissen: Pro Jahr sterben in der Schweiz mehr als 3'300 Menschen vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung. Sie wird zunehmen, todsicher, das Immunsystem gefällt, zersägt, zerschreddert.

Zeit also, sag ich Euch, die Grenzwerte zu erhöhen und die Meßstationen abzubauen.
Ich grüß Euch also von den alten Bäumen damals, von ihrem Grün und Rot dazwischen. Erinnert euch an sie mit Freude, an die tausend Helfer der Städte im Dunst, im Feinstaub, der die Lungen zerfrisst.

Hier, im Herzen der Stadt, wo Platz war zum Verweilen, schau in den Himmel, weltoffen wie das Land, willst du mir sagen, die Wiesen ausgebreitet mit offenen Armen, die Sonne im Nacken: Juchtenkäfer und Murmeltier beim Zuschauen, wie das frische Grün wächst immer wieder immer wieder immer wieder.

Den Eichelhäher verblüfft die Dummheit :der Menschen: Sieh da, wie sie das eigene Grab schaufeln, ruft er den lachenden Ringeltauben zu. Es gibt keinen zweiten Planeten, wollte er uns sagen. Wer glaubt schon dem Eichelhäher ...

15 bis 30 kg Sauerstoff hat uns jeder einzelne der Bäume täglich gespendet, über Zeiten, über die Zeiten, als Krieg war und Hunger, über die Zeiten. Und die Stadt brannte ...

15 bis 30 kg Sauerstoff, genug ist nie genug, genug aber, genug, um 50 Kinder jeden Tag mit Sauerstoff zu versorgen ...

Nun, zähl die Bäume, mein Freund, doch nicht nur sie. Zähl die Menschen am Amazonas und in den Höhlen, wo sie das Uran abbauen. Zähl, mein Freund, mit den Bäumen auch die Kinder, die Menschenkinder unserer Stadt, am Rande des Parks.

Der heiße Kessel, in dem Ignoranz und Starrsinn brodeln, braucht jeden Baum und jedes Blatt an den brennenden Sommertagen, braucht die Sträucher und Gräser,

wo sich die Maikäfer ausruhen und den Hummeln zuhören beim Summen. Deine Bäume, guter Freund, haben den Staub gefiltert ohne TÜV und Bürgermeisteramt, haben Bakterien und Schadpilze aus der Luft verwandelt, haben Schatten gespendet allzeit in reichem Maße:

Wie Herrenknecht, der Mann im Schatten der CDU, in christlicher Demut spendet:
Der Hofknicks des Kapitals vor Stuttgart21 und Sonntags ein Ava Marie für die Armen und Kranken und die Natur.

Bäume.

Stärker wird der Wind in der Stadt ohne Euch, meine Gefährten am Wegesrand. Unendlich lauter wird die Stadt: du hast viel geschluckt, mein Freund, im Lauf der Jahrzehnte. Nun machen sie sich auf die Suche, sieht du, nach dem Planeten B, der zweiten Erde:

Planet A: Mutter Erde. Dort.

Sie vergiften die Flüsse, rund um die Erde. Sie vernichten die Wälder, weltweit. Sie fischen die Meere leer und lassen die Gletscher schmelzen. Sie rauben die Rohstoffe, rund um den Globus. Der weiße, erbarmungslose Mann. Wir.

Denkt nach.

Eure Trauer braucht nun den Zorn.

Euer Zorn aber braucht Nachsicht und Klugheit.

Eure Klugheit braucht Tatkraft.

Unsere Tatkraft braucht Ausdauer, auf lange Sichten,

Schaut, wie sie die Natur geschändet haben, wieder und wieder und wieder - und doch werden jedes Jahr, wenn der Frühling kommt, die neuen Knospen sprießen, zehntausendfach - immer wieder und wieder und wieder.

Ich zitiere noch einmal Günter Eich:

"... Fuhrest auch du einmal aus den Armen der Liebe auf,
weil ein Schrei dein Ohr traf, jener Schrei,
den unaufhörlich die Erde ausschreit und den du sonst
für das Geräusch des Regens halten magst
oder für das Rauschen des Winds.
Sieh, was es gibt: Gefängnis und Folterung,
Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt,
den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint.
Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde,
und in den Augen der Menschen, die du liebst,
wohnt die Bestürzung.
Alles, was geschieht, geht dich an.

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht,
die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind,
wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder,
die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!"

www.bei-abriss-aufstand.de/2012/03/11/peter-grohmann-rede-zur-trauerfeier-am-mittleren-schlossgarten/

2. Weitere Lyrik zum Thema:

Frühling läßt sein blaues Bandvon Eduard Mörike (1804-1875)

www.garten-literatur.de/Leselaube/moerike.htm

Im Frühling von Eduard Mörike 1804-1875

ingeb.org/Lieder/hierlieg.html

Erklär mir Liebe von Ingeborg Bachmann

.....

Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube stellt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt.

Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion.
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,
daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern,
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!

.....

missmarplespoesiealbum.blog.de/2008/04/02/erklar-mir-liebe-ingeborg-bachmann-3985259

Zitronenfalter im April von EduardMörike

Grausame Frühlingssonne,
Du weckst mich vor der Zeit,
Dem nur in Maienwonne
Die zarte Kost gedeiht!

.....

missmarplespoesiealbum.blog.de/2008/04/02/zitronenfalter-im-april-eduard-morike-3985232/

Um Mitternacht (1827) von Eduard Mörike

lyrik.antikoerperchen.de/eduard-moerike-um-mitternacht,textbearbeitung,218.html

Mitternacht von Friedrich Rückert

Um Mitternacht
Hab' ich gewacht
Und aufgeblickt zum Himmel;
Kein Stern vom Sterngewimmel
Hat mir gelacht
Um Mitternacht.

....

Um Mitternacht
Kämpft' ich die Schlacht
O Menschheit deiner Leiden;
Nicht konnt' ich sie entscheiden
Mit meiner Macht

Um Mitternacht.

.....

meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/rue_f21.html

The Waste Land (1922) von T.S. Eliot (1888–1965)

I. THE BURIAL OF THE DEAD

APRIL is the cruellest month, breeding

Lilacs out of the dead land, mixing

Memory and desire, stirring

Dull roots with spring rain.

.....

www.bartleby.com/201/1.html

DANN GIBT ES NUR EINS von Wolfgang Borchert

......

dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpeste-
ter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne
und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den un-
übersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen
betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig,
lästernd, klagend -und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört
in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern
im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen,
ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch -

all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute
nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn -- wenn -- wenn ihr nicht
NEIN sagt.

gabrieleweis.de/denkwerkstatt/literarisches/borchert-dann-gibt-es-nur-eins.htm

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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