S21: Presseclub, Nebelclub, Lügenclub?

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In der letzten Woche war Demokratie-Striptease in Stuttgart. Erst die Regierungserklärung von Mappus, die das übliche Blabla enthielt. Nebenbei noch einige interessante Beispiele von Desinformation - die hier nicht angesprochen werden sollen. Dann das Schmierentheater um den "Baustopp", in dessen Verlauf Grube und Mappus nichts unversucht ließen, um von vornherein klarzustellen, dass Heiner Geißler - entgegen seiner eigenen Aussage - eben doch nur einer Alibiveranstaltung präsidieren sollte. Dann der dringende Verdacht, dass die Baumfällaktion illegal war (1). Schließlich der zunehmende Verdacht, dass einige "Beweise" der Polizei zu den Gewaltaktionen vom 30.09.2010 ...nun ja....nicht unbedingt lupenrein und passgenau sein könnten (2). Am Ende dann noch ein "Offener Brief" des Herrn Ministerpräsidenten an sein Volk - man verkehrt hierzulande in letzter Zeit öfters schriftlich mit dem Bürger - , den mcmac an anderer Stelle bereits unter die Lupe genommen hat (3).

Seit heute nun haben wir auch einen Journalisten-Striptease beim Presseclub, der ein Übriges dazu tun könnte, deutlich zu machen, warum die Bürger im Lande zunehmend Sturm laufen gegen ein System, das offenbar nur noch über ihre Köpfe hinweg zu arbeiten scheint. Zu vermelden ist eine weitere Lektion in der Kunst des Desinformation. Man könnte auch von schwatzendem Journalismus der Ahnungslosigkeit sprechen, wobei dieses Etikett zuvörderst einer Frau Fietz* vom FOCUS und einem Herrn Goffard vom HANDELSBLATT gebührt, während Herr Wefing von der ZEIT und Frau Krauß von der Stuttgarter Zeitung immerhin einigermaßen wussten, um was es überhaupt geht.

Aber bereits der Titel war eine Irreführung. "Blockierte Republik" hieß es da unter anderem. Und ausgerechnet unter einem solchen Begriff sollte ein Teil der Republik abgehandelt werden, der offensichtlich und unübersehbar in BEWEGUNG ist! Wer blockiert seit 15 Jahren jede Kreativität, jeden Alternativvorschlag, jede Offenlegung der Kosten, Risiken und Fakten? Wer blockiert jetzt, da die Bürger in Aufruhr sind, ein Innehalten durch Bau- und Vergabestopp und ein Nachholen des Versäumten? Mithin ein Nachholen von Legitimation? (4)

Man kann als Journalist nicht alles wissen. Schon gar nicht, wenn man noch nicht einmal vor Ort war. Aber wenigstens den Offenen Brief von Herrn Mappus hätte man ja vielleicht lesen und feststellen können, wer da von Anbeginn alternatives Denken blockiert hat:

"Ein Ausgangspunkt zu »Stuttgart 21« waren Anfang der 1990er Jahre Überlegungen der Bahn, die Innenstädte von Stuttgart, Mannheim und Ulm nicht mehr mit ICE Zügen anzufahren und die ICE-Verkehre im Raum Stuttgart über einen neuen Bahnhof in Bad Cannstatt durch das Neckartal abzuwickeln. Das hätte nicht nur diesen urbanen Zentren zum Nachteil gereicht, sondern wäre auch den Menschen im Neckartal wegen der hohen zusätzlichen Belastungen kaum zumutbar gewesen. Mit der Neukonzeption »Stuttgart 21« konnte dies abgewendet werden..."(3).

Allein die Beachtung dieses Abschnittes hätte einen ganz anderen Diskussionsverlauf nach sich ziehen können. Einen zumal, der an dem entlang debattiert hätte, was den Bürgern hier derzeit so auf Magen und Gemüt drückt. Stattdessen Blabla, Vernebelung, Unwahrheiten und Ablenken auf Nebenkriegsschauplätze. Und wenn Wefing oder Krauß gerade mal in die Nähe eines Kernpunktes kamen, wurde vom Moderator zu den Allgemeinplätzen zurückbeordert.


Interessant ist ja schon mal, dass eigentlich niemand bislang bemerkte, was das eigentlich für ein Skandal ist, wenn es eines Vermittlers zwischen Bürgern und deren gewählten Repräsentanten bedarf. Entschuldigung, aber was für ein Demokratieverständnis offenbart sich denn da eigentlich, wenn gewählte Repräsentanten des Staates sich aufführen wie Unternehmer in Tarifverhandlungen und die Bürger quasi wie Gewerkschaften versuchen müssen, ihren Volkswillen wenigstens als mühselig ausgehandelten Teilkompromiss durchzusetzen?

Ist das nun Anlass für Begeisterung, wie es Herr Wefing anzunehmen scheint? Oder ist das eher ein Zeichen dafür, dass eine der Kernsäulen unseres Grundgesetzes mittlerweile außer Kraft gesetzt ist? Dort heißt es nämlich ganz anders:

"(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."(5)

Steht da irgendetwas darüber, dass Staatsgewalt den Regierenden vom Volk erst mit Hilfe eines Schlichters mühsam und bröckchenweise abgerungen werden müsse? Aber das eigenartige Demokratieverständnis zumindest von Teilen der Runde offenbarte sich auch bei Frau Fietz, die noch nicht einmal bemerkte, wie sie sich widersprach, wenn sie einerseits meinte, jetzt sei es nötig, die Fakten auf den Tisch zu legen und dann im selben Beitrag behauptete, das Verfahren laufe nun lange genug und habe alle demokratischen Instanzen durchlaufen.

Entschuldigung, aber wie bitte kann ein Verfahren demokratisch abgelaufen sein, wenn erst jetzt gefordert wird, dass alle Fakten auf den Tisch kommen müssten? Worüber haben die demokratischen Instanzen dann eigentlich abgestimmt? Über Werbeprospekte?

Auch Herrn Goffard scheint Art. 20,3 GG nicht geläufig zu sein. Wie sonst könnte er zu der Aussage kommen, die Bürger hätten 15 Jahre lang alle Möglichkeiten auszuschöpfen versucht, um das Projekt zu stoppen, bis hin zum Juchtenkäfer? Entschuldigung, wozu gibt es eigentlich Gesetze zu Denkmal-, Natur- , Urheberrechts- und Artenschutz, wenn die Forderung nach ihrer Einhaltung nur noch als Störung bei der Verwirklichung von „Zukunftsvisionen“ betrachtet wird?

Wenn ein Gesetz als sinnlos oder verkehrt betrachtet wird, dann ist es eben zu ändern. Solange es aber gilt, gilt es. Sonst herrscht kein Rechtssaat mehr. Und es ist nicht Sache eines Herrn Goffard, zu entscheiden, wessen Interesse bei konkurrierenden Interessen höher zu bewerten sei. Das ist Sache der ordentlichen Gerichte. Und wem das zu lange dauert, der muss sich fragen lassen, ob er hier chinesische oder nordkoreanische Verhältnisse will. Dort geht es nämlich schneller. Einstweilen aber gilt immer noch Art. 20, 3:

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“(5)

Wer aber schon nicht das Grundgesetz kennt, von dem kann man wohl kaum erwarten, dass er/ sie sich die Mühe macht, Fakten und Hintergründe zu recherchieren. Da ist es doch allemal einfacher, das zu tun, was offenbar immer üblicher im deutschen Journalismus wird, die vorgestanzten PR-Sprüche der Regierenden nachzuplappern. So kann es auch nicht mehr verwundern, wenn Frau Fietz plötzlich als Kernpunkt der Debatte Deutschlands Zukunftsfähigkeit sieht und Herr Goffard doch allzu gerne darauf einsteigt. Kann er sich doch so endlich über die lästigen Fakten erheben und ganz weit oben über die Wirklichkeit hinweglabern.

Und über den Wolken, weitab vom Bürger, lässt es sich dann trefflich über dessen Zukunftsskepsis und Modernisierungsverweigerung lästern. Modernisierungsverweigerung? Ausgerechnet in Stuttgart? Dem Ort, der jahrelang das Opernhaus des Jahres beherbergte, weil sein Bürgertum sich dem exzessiven "Regietheater" nicht verweigerte?

Da muss wohl einer erst einmal von seinen Vorurteilen Abschied nehmen, bevor er nochmals über S21 redet - und die eigentlichen Zukunftsverweigerer sieht. Die sitzen nämlich bei den Unterstützern von S21. Zum Beispiel bei Daimler, wo man sich gegen alles sperrte, was dem Automobil der Zukunft (und Gegenwart) dient(e), vom Katalysator über den Rußpartikelfilter bis hin zum Hybridantrieb. Und zwar immer unter Berufung auf eigene, vielversprechendere "Zukunftsvisionen". Da mag man sich zwar durchaus auf einem richtigen Weg befinden. Naheliegende Zwischenlösungen aber hat man dennoch verzögert oder verschlafen.

Goffard aber kann nun ganz weit ausholen. Ohne irgendwelche Belege im Detail kurvt er quer durch die Groß- und Kleinprojekte der Republik, vergisst dabei nicht, möglichst häufig das Wörtchen „jede“ einzufügen, damit es auch immer schön verallgemeinert wird. Und schließlich landet er über die CO2-Speicherung bei der A4 und einem Lurchentunnel für 50 Millionen. Hat mit Stuttgart 21 nun zwar gar nichts zu tun, eignet sich dafür aber trefflich zur Diffamierung des ungeliebten Bürgerprotests. Sind schließlich alles Irre, denen Frau Gönner ja auch immer so gerne eine Angsttherapie angedeihen lassen möchte. In der Tradition der alten Sowjetunion, wo ja bekanntlich ebenfalls Opposition als Geisteskrankheit betrachtet wurde. (6)

Als Goffard schließlich bei seiner Bürgerbeschimpfung bei Bio- und Gentechnik angelangt ist, möchte auch Wefing nicht länger abseits stehen und erreicht mit der Sarrazin-Debatte wohl den Punkt, der von dem protestierenden Stuttgarter Bürgertum wohl am weitesten entfernt ist und den Befürwortern von S21 wohl am nächsten liegt. Fakt jedenfalls ist, dass im Stuttgarter Protest unterschiedliche Hautfarben und Herkünfte mitmachen.

Bärbel Kraus von der Stuttgarter Zeitung blieb es vorbehalten, ein entscheidendes Stichwort in die Debatte einzuführen: „alternativlos“. Statt darauf einzugehen und z.B. die im obigen Mappus-Zitat angeführte Alternative zur Kenntnis zu nehmen, flüchtete sich Goffard in einen argumentativen Hinterhalt und fuhr das Sturmgeschütz der tatsächlichen oder vermeintlichen Mehrheiten auf: „Wenn sich eine Mehrheit einmal dafür entschieden hat...“ oder: „mit aller Bürgerbeteiligung durchgeplantes Projekt“ hieß es nun wieder schön vage, unbewiesen, unhinterfragt und verallgemeinernd. Und Frau Fietz fühlte sich auch gleich wieder in ihrem Element – schließlich verstand sie, nach eigenem Eingeständnis, von der eigentlichen Sache genauso wenig wie Herr Goffard. Sie rekurrierte nun auf die „zig Wahlen“, bei denen es ja eindeutig um das Projekt gegangen sei.

In der Tat. Nur bei Wahlen geht es immer um vieles. Zum Beispiel um Bildungspolitik. Zum Beispiel um Personen. Zum Beispiel um Regierungsmannschaften. Zum Beispiel um Stamm-Wählen. Zum Beispiel um ideologische Nähe oder Ferne usw. usw. Nicht geht es normalerweise um Einzelthemen. Sie mögen mobilisieren. Sie mögen am Ende wahlentscheidend sein. Keine Wahl aber kann als Referendum über ein Sachthema verstanden werden. Und genau deshalb hat Merkel die nächste Wahl zum Referendum erklärt. Sie spekuliert darauf, dass am Ende anderes entscheidet, Mappus sich aber trotzdem auf das „Referendum“ pro berufen kann. Schließlich hat Merkel es ja vorher so angekündigt.

Es ist ein weiterer durchsichtiger Betrugsversuch des „Lügenpacks“. Und dass so viele Journalisten darauf hereinfallen – oder gerne dabei mitmachen – zeigt nur, wie tief das intellektuelle und demokratische Niveau des deutschen Journalismus mittlerweile gesunken ist. Dass dann Krauß auch noch meint, ein eigenes Referendum zu S21 als ganz und gar daneben zu empfinden, toppt das Ganze noch nach unten. Da sieht dann Goffard natürlich seine Rolle als Alphatier gefährdet und wirft seinerseits die üblichen „Ausländer“ und die „Todesstrafe“ in die Debatte, um Volksabstimmungen vollends zu diffamieren. Offenbar kennt er auch bei diesen Punkten nicht das Grundgesetz, das das, worauf er zielt, gar nicht erlaubt. Jedenfalls dann nicht, wenn das Grundgesetz selbst nicht zum Gegenstand von Volksabstimmungen gemacht wird.

Ja, und dann das übliche Gerede von der Notwendigkeit, Stuttgart und Region an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz anzubinden. ICE und TGV halten zwar längst problemlos in Stuttgart. Der TGV wurde von Demonstranten sogar schon mal aufgehalten. Aber das ficht die hoch informierte Runde nicht weiter an. Nicht die Realität schließlich zählt in diesem „demokratisch und rechtsstaatlich legitimierten“ Verfahren, sondern was einschlägige Interessen als Realität definieren.

Irreführend schließlich Kraußens Angabe, die Stuttgarter Zeitung habe in ca. 8 000 Beiträgen „seriös“ und „kritisch“ über das Projekt berichtet. Dass der stellvertretende Chefredakteur in einem Leitartikel eingeräumt hat, dass die Redaktion von Anfang an pro S21 war. Oder dass ein leitender Redakteur (Adrian Zielke) öffentlich meinte, ohne die StZ wäre es wohl nie zu dem Projekt gekommen, das erwähnt Krauß nicht.(7)

Vollends als Regierungs-Schwätzer entlarvt hat sich Runde aber, als ein Hörer die Runde fragte, ob sie genau so argumentieren würden, wenn sie selbst Bauherren wären, es um ihr eigenes Geld ginge und die Kosten nach Vertragsabschluss genauso explodieren würden. Da schwieg die Runde zur Frage und schweifte stattdessen schwafelnd dem Ende der Sendung entgegen. Welch ein Mut! Welch überragende Argumentation in der Sache. Weiter so!

* Der Stern schreibt zu Frau Fietz:

"Journalistin Martina Fietz. Sie ist glänzend mit der CDU vernetzt und verfügt über beste Kenntnisse des baden-württembergischen Landesverbandes." Erklärt alles.

www.stern.de/wahl-2009/bundestagswahl/berlin-vertraulich-die-problemfaelle-oettinger-und-schmidt-1505083.html

Links:

Die Links dienen als Quellenangabe und zur Vertiefung. Zum Verständnis des Beitrags ist ihre Lektüre nicht zwingend erforderlich.

(1) www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2661292_0_9223_-schutz-von-juchtenkaefern-und-fledermaeusen-behoerde-untersagt-weiteres-abholzen.html

www.stern.de/politik/deutschland/stuttgart-21-war-das-abholzen-illegal-1609749.html

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2659511_0_6629_-stuttgarter-hauptbahnhof-duebbers-unterliegt-wenn-auch-knapp.html

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2657930_0_2767_-volksabstimmung-gutachten-steht-gegen-gutachten.html

(2) www.bei-abriss-aufstand.de/2010/10/09/zum-alibi-pfefferspraye/

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2663177_0_9223_-ermittlungen-ueber-200-anzeigen-gegen-polizisten.html

(3) www.stuttgarter-zeitung.de/media_fast/1203/Offener%20Brief.pdf

www.freitag.de/community/blogs/mcmac/stuttart-21--offener-brief-von-stefan-mappus-eine-entgegnung

(4) www.zeit.de/2010/39/Bahnprojekt-Stuttgart-21?page=all

(5) dejure.org/gesetze/GG/20.html

(6) www.spiegel.de/spiegel/print/d-13502423.html

de.wikipedia.org/wiki/Larissa_Iwanowna_Arap

(7) www.stern.de/politik/deutschland/medien-und-stuttgart-21-fahrt-auf-schwaebischem-filz-1611232.html

www.zeit.de/2010/39/Bahnprojekt-Stuttgart-21?page=all

Weitere Links

Zu den Aussteigskosten

www.stern.de/politik/deutschland/moegliche-ausstiegskosten-fuer-stuttgart-21-3000000000-euro-oder-nix-1610446.html

Info-Special der Suttgarter Zeitung

www.stuttgarter-zeitung.de/media_fast/1203/Sonderbeilage%20Stuttgart%2021%20StZ.pdf

Special der Projektgegner

gruene-gegen-stuttgart21.de/dl/einundzwanzigDIE-ERSTE-September-2010.pdf

Special FREITAG

www.freitag.de/wochenthema/1040-ganz-gro-er-bahnhof

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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