S21: Putschversuch der Bosse? (3)

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Die sogenannte „Projektförderungspflicht“, die von interessierten Kreisen und den willfährigen Medien gerade gegen Grün-Rot in Baden-Württemberg in Stellung gebracht wird ist aber nur ein Teil der jüngsten PR-Attacke. Ein anderer sind die eigenartigen Formulierungen, mit denen die ministeriale Personalpolitik Hermanns bedacht wird:

Hermanns Ressort, das aus dem Umweltministerium herausgelöst wurde, bekommt 59 neue Stellen. Darunter ist wohl auch eine für einen 31-jährigen Studenten, der sich im letzten Jahr als aktives Mitglied der radikalen "Parkschützer"-Organisation einen Namen gemacht hat. ...Die Sozialdemokraten, die Stuttgart 21 befürworten, seien über die Personalie "not amused" ...Die Opposition wirft Hermann vor, sich eine "Kampftruppe gegen Stuttgart 21" rekrutiert zu haben.“

bit.ly/nPp819

Und so sieht der Rest der „Kampftruppe“ aus:

Die Taskforce des Ministers führt der grüne Nahverkehrsplaner und neue Zentralstellenleiter Gerd Hickmann. Noch vor kurzem trat er auf Veranstaltungen auf wie „Stuttgart 21 – schlichtweg Murks“. Ihm arbeitet auf einer bis Ende 2012 befristeten Stelle Patrick Kafka zu, wie das Ministerium bestätigte. Kafka steht mit seiner Handy-Nummer im Internet als Pressesprecher der „Juristen zu Stuttgart 21“. Mit Oliver Schlotz-Pissarek sitzt noch ein weiterer Mann dieser Gruppe im Ministerium. Der Richter ist vom Amtsgericht Esslingen abgeordnet und prüft Fragen des Projekts.“

bit.ly/o0w6CE

Da war das PR-Büro der Bahn nebst Zuträgern wieder einmal ungemein fleißig. Und der FOCUS druckt es doch gerne. Ist schließlich ein Geschenk. With compliments from Deutsche Bahn. Selbst aber, wenn man anerkennt, dass Faiß, Bahn, SPD und Schwarz-Gelb keinen Judenstern für Parkschützer fordern, ein Berufsverbot soll es offenbar schon sein. Und wenn das Volk schon so unbotmäßig ist und sich eine andere Regierung wählt, dann möge man doch gefälligst den in 58 Jahren CDU-Diktatur gut eingespielten Beamtenapparat nicht allzu sehr durcheinander bringen.

Hinter solchem platten Getöse verbirgt sich allerdings ein zentraler Kern, den die Bosse als höchst gefährlich ansehen müssen, viel gefährlicher jedenfalls, als die Herrschaft einer grünen Partei: der Einfluss von Bürger-Lobbyisten, also Experten, die nicht zum Durchsetzen von Partikularinteressen gekauft wurden, sondern sich für den Bürger und das Gemeinwohl engagieren und dafür ihre Expertise einbringen.

Denn daran krankte das System bislang, dass sich durchsetzte, wer genügend Macht und Geld hatte, sich Expertise einzukaufen und diese politisch einzusetzen. Weit davon entfernt, solches zu begrenzen und zu kontrollieren, hat man solchem Lobbyismus im politischen System die Türen weit geöffnet, z.B. in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO):

§ 47 Beteiligung von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden, Fachkreisen und Verbänden

(1) Der Entwurf einer Gesetzesvorlage ist Ländern, kommunalen Spitzenverbänden und den Vertretungen der Länder beim Bund möglichst frühzeitig zuzuleiten, wenn ihre Belange berührt sind. Ist in wesentlichen Punkten mit der abweichenden Meinung eines beteiligten Bundesministeriums zu rechnen, hat die Zuleitung nur im Einvernehmen mit diesem zu erfolgen. Soll das Vorhaben vertraulich behandelt werden, ist dies zu vermerken.

(2) Das Bundeskanzleramt ist über die Beteiligung zu unterrichten. Bei Gesetzentwürfen von besonderer politischer Bedeutung muss seine Zustimmung eingeholt werden.

(3) Für eine rechtzeitige Beteiligung von Zentral- und Gesamt-verbänden sowie von Fachkreisen, die auf Bundesebene bestehen, gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend. Zeitpunkt, Umfang und Auswahl bleiben, soweit keine Sondervorschriften bestehen, dem Ermessen des federführenden Bundesministeriums überlassen.“ [Hervorhebung vom Autor]

bit.ly/o3P8fI

Im Klartext heißt dies, dass Lobbyisten Gesetze bereits im Entstehungsstadium maßgeblich und völlig unkontrolliert beeinflussen bzw. selbst verfassen können, ohne dass dies dem Kabinett insgesamt oder dem Parlament im Einzelnen zur Kenntnis gelangen muss. Es heißt außerdem, dass sich über die Jahre selbstverständlich eine Kumpanei zwischen Lobbyisten und Fachbeamten entwickeln kann, die so gut wie nicht zu durchschauen ist und schon dadurch geeignet ist, kritischen Beamtenverstand auszuschalten, weil am Ende eine lukrative Karriere bei den Bossen winken kann – wenn man nicht allzu sehr wieder den kapitalen Stachel löckt. Entscheidende Gesetze können auf diesem Wege also de facto von „Experten“ verfasst und durchgesetzt werden, die weder demokratisch noch sonstwie legitimiert oder kontrolliert sind und unerkannt im Hintergrund ihre Tätigkeit für organisierte Partikularinteressen ausüben.

Eine besonders delikate Variante ist der Wechsel von der „Wirtschaft“ in die Politik bzw. auf Spitzenpositionen in der Verwaltung, was besonders in den USA sehr ausgeprägt ist. Auf diese Weise geriet z.B. die amerikanische Finanzpolitik fest in die Hände von Goldman Sachs. So wechselte beispielsweise Henry M. Paulson vom Verteidigungsministerium über das Weiße Haus (Watergate) zu Goldman Sachs und von dort, wie bereits seine beiden Vorgänger, ins Finanzministerium (Weltfinanzkrise).

de.wikipedia.org/wiki/Henry_Paulson

Das entspringt natürlich auch der Notwendigkeit, sich bei der Regelung der staatlichen Angelegenheiten des vorhandenen Fachwissens zu bedienen, das der Staat schon allein aus Kostengründen gar nicht selbst vorhalten kann. Es bedeutet aber natürlich auch, dass nicht organisierte Interessen oder solche, die zwar organisiert, aber nicht allzu mächtig sind, keine oder nur wenig Berücksichtigung im Regierungshandeln erfahren.

Genau hier aber hat sich insbesondere in der Anti-Atom-Bewegung und jetzt auch bei Stuttgart 21 die Instanz einer Art Bürger-Experten entwickelt, die das Monopol der mächtigen Kapital-Experten brechen und dadurch für dieses höchst gefährlich werden können. Bei der sogenannten „Schlichtung“ ist die Bahn mit gewohnter Arroganz und Ignoranz gegen diese von ihr bis dahin nicht beachteten oder abgebügelten Experten angetreten und böse auf der Nase gelandet, weil sie erwartet hatte, auf ein ähnlich dümmlich-naives Abnick-Publikum wie in den Parlamenten zu treffen. Erst Heiner Geißler hat die alte Hackordung wieder hergestellt, indem er am Ende so tat, als habe es die Gegenargumente gar nicht gegeben und damit einen Großteil der Öffentlichkeit gehörig vernebelte.

Ein gutes Beispiel dafür, auf was für Gemüter die Bahn zuvor getroffen war, lässt das schlichte Weltbild von OB Schuster erkennen, das ich hier aus einem Interview der Stuttgarter Zeitung verkürzt zusammenbasteln möchte:

Im Grundsatz habe ich Vertrauen in ein Unternehmen, das täglich mehr Passagiere befördert als die Lufthansa im ganzen Jahr. Und ich vertraue der deutschen Ingenieurkunst. Mit der sind wir bisher nicht schlecht gefahren. .....Niemand verlangt, dass [nach dem Stresstest] aus Gegnern Befürworter werden. Aber ich halte wenig von Fundamentalopposition. Vor allem dann nicht, wenn sie ins Kriminelle abgleitet.“

bit.ly/qFdeWc

Wie unterirdisch das geistige Niveau unserer „Volksvertreter“ sein kann stellte unlängst auch das FDP-Übergewicht und Mitglied von Bahnvorstand und Verkehrsausschuss des Bundestages Patrick Döring unter Beweis, als er mächtig seine Projektionsmaschine gegen Winfried Hermann anwarf:

Aus der FDP kamen harsche Worte zu Hermann: Der handle nach der Devise "Verschonen Sie mich mit Tatsachen, ich habe schon meine Meinung", sagte FDP-Bundestagsfraktionsvize Patrick Döring dem "Handelsblatt Online". Aber auch ein Grünen-Verkehrsminister müsse "irgendwann die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, ohne sich auf den Boden zu werfen und 'Ja, aber trotzdem' zu schreien".

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,770716,00.html

Ich sehe den kleinen Patrick förmlich vor mir, wie er brüllend auf dem Boden des Supermarktes liegt. Und auch das schwarz-gelbe Verhältnis zu den Tatsachen bei S21 scheint mir treffend beschrieben.

Wenn nun plötzlich Experten ohne solches „Grundvertrauen“ und vorgefertigte Meinungen, dafür aber in kritischer „Fundamentalopposition“ und in Übereinstimmung mit den Tatsachen direkt im Verkehrsministerium sitzen, wo man bislang auf entgegenkommende oder zumindest ihre Meinung hintan stellende Beamte traf, dann ist natürlich höchste Alarmstufe angesagt. Und wenn sich das erst einmal durchsetzt, dann wankt eine zentrale Machtbasis der Bosse im politischen System. Das erklärt die Heftigkeit der jüngsten Attacken gegen Hermann. Und wenn sich ausgerechnet ein grüner Jura-Professor an diesem Spiel beteiligt, dann wäre es an der Zeit, dass die Grünen sich dazu mal ein paar Gedanken machen.

Gefahr für das Machtmonopol der Bosse droht umso mehr, als auch durch das Internet – noch – die bislang so bequeme PR-Gehirnwäsche via Medien empfindlich gestört wird. Bosse und Politik können sich nicht mehr sicher sein, dass das, was sie ihren Hofberichterstattern so alles direkt in die Spalten diktieren auch unhinterfragt bei einem Konsumenten ankommt, der sich durch ein paar Klicks sämtliche Gegenmeinungen und -argumente auf den Bildschirm holen kann.

Dies erklärt das Hase-und-Igel-Spiel, das die Bahn – unter vermutlich immensen Kosten - seit Monaten betreibt, um Projektgegner zu Tode zu beschäftigen, sie einzuschüchtern und die Öffentlichkeit von dem skandalösen Betrügereien an Öffentlichkeit und Politik abzulenken, die in immer kürzeren Abständen von gelegentlich aufgewachten Medien aufgedeckt werden. Beim aktuellen Thema sah das beispielsweise so aus:

13.07.2011: „CDU gegen geringere Hürden für Volksabstimmung“

bit.ly/nuWWKF

14.07.2011: Grün-rote Landesregierung. Rülke: "Kampftruppe gegen S 21"

bit.ly/q6A4FA

15.07.2011: Bahnexperte Heimerl:"K21 würde nicht viel weniger als S21 kosten"

bit.ly/nmIjZq

19.07.2011: Erwiderung Hopfenzitz

bit.ly/pSKvpV

16.07.2011: „Parkschützer im Verkehrsministerium“

bit.ly/nPp819

16.07.2011: „Randalierern vom 20. Juni droht Millionenklage“

bit.ly/qYNDtP

18.07.2011: Erwiderung der Parkschützer: „der bei der Stürmung der Grundwasser-Baustelle Mitte Juni entstandene Schaden sei viel zu hoch angesetzt worden. Statt 1,5 Millionen Euro betrage er lediglich rund 60.000 Euro. Das hätten projektkritische Ingenieure ermittelt.

bit.ly/mU4QqV

17.07.2011: „Bahn prüft rechtliche Schritte gegen Grün-Rot“

bit.ly/o0w6CE

…..und als aktuelle Ergänzung und Erinnerung zum Thema „Was die Bahn – aus deutscher Tradition? - nicht prüft“:19.07.2011: Bahn verhält sich bei Stuttgart 21 «zynisch»

bit.ly/qHPPpQ

Und auch die Diffamierungskampagne gegen den Widerstand im Internet ist natürlich längst angelaufen:

www.youtube.com/watch?v=V6wvOZUVbXI&;feature=player_embedded

bit.ly/qqQXBs

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem täglichen Medienbeschuss. Dass Juristen wie Faiß, die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, Zeitungsredaktionen und Politiker dieses Spiel – aus teilweise durchsichtigen Gründen – mitspielen, lässt für diese Republik nichts Gutes ahnen. Und man kann es auch getrost in Zusammenhang mit der unbewältigten Nazivergangenheit sehen, wozu – vielleicht - in anderem Zusammenhang noch einiges gesagt werden wird.

Hier soll zum Abschluss nur noch einmal daran erinnert werden, dass das, was sich aktuell in Stuttgart abspielt zwar nur einen kleinen, aber dennoch drastischen Einblick in das gewährt, was sich zwischen Bossen, Politik und Bürgern bundesweit abspielt und zuletzt bei der Rücknahme und später bei der Rücknahme der Rücknahme des Atomausstiegs deutlich wurde.

Wohin die medial bejubelte „neo“-liberale Reise zurück geht, wenn sie jetzt nicht endlich gestoppt wird, zeigt sich aktuell besonders drastisch in der andauernden Weltfinanzkrise; dem Politik-Medienskandal in Großbritannien, in dem, hoffentlich, der kriminelle Kern einer gigantischen Gehirnwäsche-Maschinerie ans Tageslicht kommt; und an dem offenen Krieg, den in den USA die Republikaner für die Superreichen gegen den Mittelstand, die Armen und das staatlich organisierte Gemeinwohl insgesamt führen, wobei sie von einer – ebenfalls von Murdoch - verblödeten und zum Teil faschistoiden Anhängerschaft auch noch Beifall bekommen. Wir sind noch nicht ganz so weit, aber auf dem „besten“ Weg dahin. Und der Kampf gegen S21 könnte darüber entscheiden, in welche Richtung es in Zukunft geht. Noch aber ist das Zeitfenster offen, das einen Kurswechsel möglich erscheinen lässt.

Deshalb:

www.freitag.de/community/blogs/mcmac/s21--83-montagsdemo-videobloginfo

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Ergänzt und überarbeitet am 20.07.2011, 17:20 Uhr

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47