Stuttgart 21: Die Kunst der Desinformation

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vorweg gesagt: die hier kritisierte Stuttgarter Zeitung hat sich inzwischen korrigiert und damit das moralische Abstandsgebot zur CDU wieder hergestellt.

Am Anfang stand Merkel, die Kanzlerin, die endlich ihre Vergangenheit angemessen in die Gegenwart zu integrieren versucht. Wie schon weiland die Führungstruppe der DDR so sieht es jetzt offenbar auch Frau Merkel: der Feind ist das Volk. Und das Volk gilt es zu bekämpfen.

"Angela Merkel hat „Leidenschaft“ gesagt...Leidenschaft. Wer konnte dieses Wort aus Merkel herauslocken? Es waren jene Bürger, die gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ protestieren. Denen will Merkel leidenschaftlich entgegentreten." So steht es im SPIEGEL, wo es Dirk Kurbjuweit staunend vermerkt.(1)

Folgt man Alexander Osang, ebenfalls im SPIEGEL, dann verhielt Frau Merkel sich in jenem Herbst 1989, als das Volk der DDR sich die Freiheit erkämpfte ganz anders, wenngleich durchaus logisch:

"Hans-Jürgen Fischbeck, Physiker an der Akademie der Wissenschaften in Berlin, hatte gerade mit ein paar Freunden Demokratie Jetzt gegründet; Günter Nooke, Physiker aus Forst, würde in sieben Tagen mit 16 Gleichgesinnten in einer Altbauwohnung in Berlin-Mitte den Demokratischen Aufbruch gründen. Die Physiker befanden sich an diesem Wochenende auf dem Sprung in die Politik, sie landeten später in kleineren und größeren Parlamenten, aus denen sie sich inzwischen fast alle wieder zurückgezogen haben...Diejenige am Tisch aber, die damals schwieg, ist heute Bundeskanzlerin...Der Herbst '89 ist die letzte unscharfe Phase im Leben der Kanzlerin. Angela Merkel war mehr oder weniger zufällig in die Runde geraten."(2)

Jetzt ist die "Schläferin" (Osang), "die Frau, die im Wahlkampf 2009 als führende Anästhesistin des Landes auftrat" (Kurbjuweit) mit Macht erwacht. Sie hat endlich wieder den natürlichen Feind politischer Führer gefunden: das Volk. Jetzt kann sie es so bekämpfen, wie sie es in ihrer FDJ-Sozialisation gelernt hat, denn jetzt lebt sie in Freiheit. Ein Volk, das diese für sie erkämpft, braucht sie nicht mehr. Und nicht um ihre Freiheit und Lebensqualität geht es ja bei Hartz IV, beim Atomausstieg, bei Stuttgart 21. Da ist nur das Leben der anderen, der Bürger betroffen.

Kurbjuweit erinnert sich noch an einen weiteren Durchbruch von Leidenschaft bei Frau Merkel, der diese Vermutung weiter untermauert. "Das war im Juni 2008...Merkel war auf einem Gipfel in Brüssel und kam nach Mitternacht zu einem Hintergrundgespräch mit Journalisten in ein Hotel. Ihre Laune war gut, Deutschland hatte Portugal bei der Europameisterschaft geschlagen, und sie hatte eben noch mit ihrem Lieblingsbürger telefoniert, Bastian Schweinsteiger...Dann wurde sie gefragt, ob nicht eine Volksabstimmung auch in Deutschland sinnvoll sei. Merkel fixierte den Frager und rastete aus, sie hielt einen furiosen Vortrag über die repräsentative Demokratie und die Vorzüge der Berufspolitik."

Und Kurbjuweit skizziert freundlicherweise auch gleich die Merkelkratie, ohne sie als solche zu benennen: "Merkel sieht es so: Die Bürger lebten vor allem im Jetzt und sähen die Unannehmlichkeiten einer Baustelle, eines Windparks, eines Kraftwerks für das eigene Leben. Die Politikprofis dagegen lebten halb im Morgen und müssten die Zukunft für alle sichern."(3)

Und in Stuttgart - welch glückliche Fügung - treffen sich nun die eingebrannten Erfahrungen mit dem DDR-Plansystem und die autoritären Tendenzen des CDU-Staates, bzw. des polit-industriellen Herrschaftssystems kapitalistischer Prägung.

Und da verkommt das Grundgesetz schon mal zum notwendigen Übel, wie
Marcus Gatzke es auf ZEIT Online formuliert.(4) Und in der Leidenschaft des Angriffs bleibt dann auch mal die Wahrhaftigkeit auf der Strecke, bzw. diese wird realsozialistisch vorgetragen.

Und damit zurück zur Stuttgarter Zeitung. Sie berichtete am 27.09.2010 vom Landesparteitag der CDU in Mainz. Stuttgart 21 sei "ein europäisches Projekt, das auch im europäischen Parlament abgestimmt wurde", sagte Merkel dort laut StZ. Mit dem Projekt werde Europa von Frankreich über die Slowakei bis auf den Balkan verbunden. Deutschland müsse zeigen, "dass wir zuverlässig sind". (5)

Dem hatte Cem Özdemir - nach meinem Kenntnisstand korrekt - widersprochen: "Die Kanzlerin ist entweder schlecht informiert oder sie verdreht bewusst die Tatsachen, wenn sie Stuttgart 21 als ein Projekt bezeichnet, das auf europäischer Ebene abgestimmt worden sei", so Özdemir. Dies sei falsch. "Weder hat das Europäische Parlament je über Stuttgart 21 abgestimmt noch finanziert die EU den Bahnhofsumbau."

Interessant, wie die StZ dann mit ihrem Bericht zunächst fortfuhr: Hier irrt Cem Özdemir. Das Landesumweltministerium hat erklärt, dass die EU das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm schon bis 2013 mit 215 Millionen Euro bezuschusst. Davon entfielen 101 Millionen Euro auf die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm und 114 Millionen Euro auf Stuttgart 21. Zur Umgestaltung des Bahnknotens Stuttgart gehören auch 30 Kilometer Ferngleise.

Ein hiesiges CDU-Ministerium spricht und die Zeitung gibt es offenbar ungeprüft weiter, obwohl hier zwei Aussagen gegeneinander stehen. Wer den Stuttgartern ständig vorwirft, sie hätten das, was hier an kapitalistischer Barbarei passieren soll, doch schon längst wissen können, mag an dieser Kleinigkeit ablesen, wie man von falschen Informationen getäuscht werden kann, wenn eine Presse nicht mehr überparteilich und "objektiv" berichtet, sondern - vom stellvertretenden Chefredaktuer offen eingestanden(6) - einseitig für ein Projekt wirbt.

Und diese Lüge bzw. Halbwahrheit Europa betreffend wird hier seit Wochen so penetrant heruntergebetet, dass zwei Europa-Abgeordnete der Grünen, Heide Rühle und Michael Cramer sich bereits am 15.09.2010 in einem Offenen Brief an Ministerpräsident Mappus und OB Wolfgang Schuster gewandt hatten und dabei bereits in der Überschrift Klartext sprachen: "Stuttgart 21 - ein EU-Projekt? Bleiben Sie bei der Wahrheit!"

Weiter heißt es in diesem Brief: " Aber das Europäische Parlament hat - anders als Sie behaupten - zu keinem Zeitpunkt über den Bahnhofsumbau abgestimmt. Der Bahnhofsumbau ist aus Sicht der Europäischen Union ein Projekt, dem lediglich nationale Bedeutung zukommt. Aus diesem Grund wird der Umbau des historischen Bonatzbaus auch nicht mit EU-Mitteln kofinanziert, wie der EU-Koordinator für die Magistrale Paris-Bratislava, Herr Peter Balázs, mehrfach klarstellte. (7)

Die Frage, weshalb die StZ diesen Brief am 27.09.2010 noch nicht kannte, spare ich mir. Denn, nachdem eine Reihe empörter Kommentatoren auf den Sachverhalt hinwiesen, hat man den Text stillschweigend (?) korrigiert. Die Abwertung "Hier irrt..." wurde entfernt. Die halbwahren Formulierungen von Merkel und Gönner allerdings stehen immer noch redaktionell unkommentiert online. Ist schließlich die eigene Seite.....

Aber der Fall ist auch noch in anderer Hinsicht typisch für die S 21-Debatte. Während nämlich Politik, Wirtschaft und die Stuttgarter Presse in Teamarbeit die Bürgerschaft mit vagen Sprüchen, Halbwahrheiten (Lügen) oder intensivem Teil-Verschweigen überschütten, zeigen sich diese ziemlich informiert. So kommentierte ein Unternehnmer aus Hohenlohe:

"Im Tätigkeitsbericht 2006/2007 des zuständigen EU-Koordinators PÉTER BALÁZS liest es sich völlig anders: „Diese Analyse unterstreicht die Notwendigkeit, den Abschnitt Stuttgart-
Ulm vollständig zu realisieren. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnung „Stuttgart 21“ zu Verwirrung führen kann. Diese Bezeichnung wird üblicherweise für das Projekt des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs verwendet, allerdings wird auch der Abschnitt vom neuen unterirdischen Durchgangsbahnhof zum Flughafen und nach Wendlingen so genannt...Eine eventuelle Kofinanzierung durch die Gemeinschaft kann sich nicht auf die Errichtung des Bahnhofs selbst erstrecken. Allenfalls können die mit der Errichtung der Linie unmittelbar in Zusammenhang stehenden Kosten kofinanziert werden, also der so genannte Schienenanteil.
"(5)

Mittlerweile hat im Übrigen auch Frau Merkel offene Post von den Grünen bekommen. Man wird sehen, wieviel Briefe es noch braucht....(8)
Und die Geschichte geht noch weiter, denn ein Pro-Kommentator zeigt sich sehr bewandert in der Kunst des voreingenommenen Lesens, die er gekonnt mit herablassender Rechthaberei und subtiler Migrantenfeindlichkeit kombiniert. Er darf das, denn schließlich steht er ja auf der richtigen Seite und formuliert es auch so recht charmant:

"Der Chem!
Niemand hat behauptet, dass das EU-Parlament über S21 abgestimmt hätte. Die Mutti hat gesagt - mit ihm abgestimmt. Der Chem hat das dann gleich ein wenig anders verstanden - kann mal vorkommen und soll jetzt hier keine Migrantenwitze provozieren.
" Soweit AlterEgo. Fragt sich von wem.(5)

Nein, ich bin noch nicht zu Ende. Denn auch Herr Kurbjuweit hat noch einen Trick auf Lager, den ich meinen Lesern nicht vorenthalten möchte. In seinem Artikel über Frau Merkels Gespür für autoritäres Regieren hat er nämlich eine deutsche Tradition entdeckt. Vor allem bei den Sozialdemokraten. Denn bekanntlich haben vor allem sie Probleme mit demokratischem Regieren. Sind schließlich die ewige fünfte Kolonne:

"Das Paradoxe an einer Demokratie ist, dass vor allem der Politiker Respekt einheimst, der sich gegen starken Protest durchsetzt, also gegen einen größeren Teil des Volkes regiert. Bei Willy Brandt war es die Ostpolitik, bei Helmut Schmidt die Nachrüstung, bei Helmut Kohl der Euro, bei Gerhard Schröder die Agenda 2010. "(1)

Also bei Willy Brandt habe ich da eine andere Erinnerung. Trotzdem habe ich nachgeschaut. Und fand u.a. Folgendes:

Zunächst wurde die Neue Ostpolitik skeptisch beäugt, vor allem von der CDU/CSU, die in der Politik einen Gegensatz zu der von Konrad Adenauer geförderten Westanbindung und -integration sah. Die damalige Opposition bekämpfte daraufhin die Vertragspolitik der Regierungskoalition aus SPD und FDP mit der Begründung, Leistung und Gegenleistung seien nicht ausgewogen.

Mit dieser „Neuen Ostpolitik“, die Willy Brandt gemeinsam mit Walter Scheel gegen den entschiedenen Widerstand der Mehrheit der CDU/CSU-Opposition durchsetzte, bemühte er sich um eine „Entspannung in Europa“. (9)

Bei den Neuwahlen im November 1972 wurde die Regierung Brandt bestätigt und verfügte nunmehr über eine handlungsfähige Mehrheit im Bundestag. Die SPD wurde mit 45,8 % der Stimmen erstmals stärkste Bundestagsfraktion, ein Ergebnis, das auch im Ausland als Volksabstimmung über die Ostverträge verstanden wurde, für deren parlamentarische Ratifizierung jetzt der Weg frei war.“ (10)*

Und was lernen wir am Fall Brandt? Das Volk, das ist die CDU. Womit wir wieder in Stuttgart wären. Denn auch für Merkel, Mappus, Schuster usw. ist das Volk die CDU. Und außer der CDU gibt es nur gewaltbereite Berufsdemonstranten, die es polizeilich auszumerzen gilt. Die Kräfte stehen bereit. An vielen Ecken und Enden der Stadt.

"Das ist fahrlässige Meinungsmache" (11), hat Christoph Ingenhoven in einem Interview gemeint. Er meinte damit aber nicht das, was hier kritisiert wurde.(12) Edzard Reuters "Nirgendwo wird die Wahrheit gesagt", würde ich da schon eher zustimmen. Allerdings unter Beschränkung auf eine Seite.(13)

(1) www.scribd.com/doc/38161775/Spiegel-Aufbruch-nach-Bratislava

(2) www.spiegel.de/spiegel/print/d-67682698.html

(3) Ich habe übrigens meine Sicht dieser Dinge in diesem Forum bereits vor der Wahl dargelegt: community.zeit.de/user/seriousguy/beitrag/2009/09/02/auf-den-kanzler-kommt-es-diesmal-nicht

(4) www.zeit.de/wirtschaft/2010-09/hartz-kommentar

(5) www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2643524_0_9909_-bundespolitik-zu-stuttgart-21-erneute-stellungnahme.html

Anderswo wurde Merkel so zitiert: "Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat auf einem Landesparteitag der rheinland-pfälzischen CDU in Mainz am Samstag behauptet, mit Stuttgart 21 würde Europa von Frankreich über die Slowakei bis auf den Balkan verbunden. Wir müssten jetzt zeigen, dass wir zuverlässig seien. Stuttgart 21 sei nicht irgendein Bahnhof in irgendeiner Stadt, sondern es sei ein europäisches Projekt, das auch im europäischen Parlament abgestimmt wurde. Man könne in Europa nicht zusammenarbeiten, wenn man seine Politik danach ausrichte, wie viele Menschen gerade auf der Straße stehen.“ tinyurl.com/3y97dwx Interesssant nauch die herabwürdigende Beschreibung der Stuttgarter Protestler, denen sich immerhin weite Teile des deutschen Feuilletons und internationale Architekturexperten angeschlossen haben.

(6) www.zeit.de/2010/39/Bahnprojekt-Stuttgart-21?page=all

(7) www.heide-ruehle.de/heide/fe/pub/de/dct/770

(8) www.heide-ruehle.de/heide/fe/pub/de/dct/772

(9) de.wikipedia.org/wiki/Ostpolitik

(10) de.wikipedia.org/wiki/Willy_Brandt

* Bei der Erstfassung ging dieser Absatz beim Kopieren leider verloren. Nachgetragen am 29.09.2010,12:45

(11) www.taz.de/1/zukunft/wirtschaft/artikel/1/das-ist-fahrlaessige-meinungsmache/

(12) www.zeit.de/wirtschaft/2010-09/edzard-reuter-interview?page=all

Teil 1 findet sich hier:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/stuttgart-21-das-imperium-schlaegt-zurueck-1

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden