Volksabstimmung BW: Idioten in der Mehrheit

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Die Volksabstimmung über die Frage, ob das Land aus der Finanzierung von S21 aussteigen soll ist entschieden: die Idioten liegen mit ca. 59:41 Prozent vorn. Ein Blick auf die Ergebnisse in den einzelnen Abstimmungskreisen zeigt, dass dies jedenfalls nicht nur Polemik ist.

www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=8923240/2cpnnh/index.html

Und wenn Menschen darüber jubeln, dass die Zerstörung ihrer Stadt, des Nahverkehrs und der für den Wohlstand der Region so entscheidenden Infrastruktur ebenso ein Stück näher rückt wie die Abzocke von Geldern, die dringend anderswo - z.B. für Bildung, Gesundheit oder Schuldenabbau - benötigt würden, dann bedarf das eigentlich keines weiteren Kommentars.

Ich habe das als naiver Optimist nicht erwartet, aber im Nachhinein ist das Ergebnis erwartungsgemäß ausgefallen. Und während ich hier schreibe, grölt der schwarze Politpöbel im Landtagsstudio, der Oberschwätzer der FastDreiProzent-Partei fordert, tief in der Scheiße stehend den Rücktritt von Winne Hermann, was selbst dem CDU-Fraktionschef dermaßen peinlich ist, dass er sich davon distanziert - und der eine oder die andere im Widerstand wird sich vielleicht noch einmal den Essay von Heinrich August Winkler zur direkten Demokratie im letzten SPIEGEL zu Gemüt führen, der den ungemein passenden Titel trägt "Die große Illusion" (47/2011), dem ich - Gott sei Dank - hier nicht widersprochen habe, womit ich mir selbst eine Peinlichkeit erspart habe.

Wie krank das hier alles ist, hat beim SWR bereits der unterirdische Moderator mit seinem ersten Satz deutlich gemacht, als er davon sprach, die Mehrheit habe sich für einen Weiterbau entschieden. Erstens gibt es keinen Weiterbau, weil mit dem Bau noch gar nicht begonnen wurde. Zweitens wurde darüber gar nicht abgestimmt. Und drittens wurde diese Abstimmung in der Öffentlichkeit viel zu hoch gehängt, während die eigentliche Widerstandsarbeit in ganz anderen Bereichen stattfindet oder statt zu finden hätte. Denn da hat Winkler ganz recht: Mehrheit allein genügt nicht. Und deshalb gibt es im politischen System Checks and Balances, Gewaltenteilung, Repräsentativorgane und eine "Vierte" Gewalt, die - von Ausnahmen abgesehen - seit Jahren ebenso total versagt, wie jene Teile des politischen Systems, die eigentlich für Kontrolle, Ausgleich und Balance sorgen sollten.

Aber noch ist hier nicht alles verloren. Zu klären bleibt, ob die Mischfinanzierung mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Ich kann mir das nicht vorstellen, da hier nämlich nicht nur eine der beiden zentralen Pfeiler des Grundgesetzes angesägt wird, der Art 20 nämlich (siehe auch Art 79,3), sondern auch die Praxis des Schmierens „legalisiert“ wird, wenn man duldet, dass reiche Länder sich Leistungen erkaufen können, die sie – wie den Tiefbahnhof - nicht brauchen, während andere Länder oder Regionen auf dringende Lösungen verzichten müssen. Und damit ist dann auch der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 GG, negativ betroffen.

dejure.org/gesetze/GG/20.html

dejure.org/gesetze/GG/79.html

www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.htm

Zu klären bleibt, ob die Bahn die bestehende Anlage einfach so abbauen darf. Einschlägige Bestimmungen und Gerichtsentscheide deuten darauf hin, dass nicht. Damit spricht viel dafür, dass es am Ende die SMA-Geißler-Lösung eines Kombi-Bahnhofs geben wird.

Dafür spricht auch, was im Zusammenhang mit dem Nicht-Stresstest zutage getreten ist: wenn der möglicherweise gebaute Tiefbahnhof sich dem Praxistest stellen muss, gehe ich schon lange davon aus, dass sich die Notwendigkeit des zumindest teilweisen Erhalts der jetzigen Gleisanlagen herausstellen wird. Der Depp wird OB Schuster sein und mit ihm die Gemeinderäte, die nicht willens oder in der Lage waren, mit so einem Milliardending kompetent und verantwortungsvoll umzugehen und sich stattdessen willfährig von bunten Bildern und Märchen von Jahrmarktschreiern verführen ließen.

Zu klären bleibt, wie das europäische Wettbewerbsrecht dazu steht, dass im Tiefbahnhof nur ganz bestimmte und ganz bestimmt ausgestattete Zugtypen verkehren können, was den Wettbewerb eindeutig zugunsten der Bahn einschränkt.

Bestehen bleiben Sicherheitsbedenken. Bestehen bleiben Finanzierungsrisiken.

Was immer ich in dieser spontanen Aufzählung vergessen haben mag: diese Abstimmung war nichts weiter als ein Nebenkriegsschauplatz, den die SPD zum Zwecke des eigenen Überlebens eröffnet und die Koalition zum Zwecke des Zustandekommens übernommen hat. Und es stand nie zur Debatte, den Widerstand gegen das Projekt einzustellen. Denn dies war keine Sache, die der Widerstand betrieben hat. Er war lediglich gezwungen, zu kämpfen, um kein unnötiges zusätzliches Risiko einzugehen. Deshalb ist es auch eine überfällige Befreiung, wenn dieses Schmierentheater endlich kein Geld und keine Kräfte mehr bindet.

Albrecht Müller hat bereits am 25. November 2011 bei seinen Nachdenkseiten dem Stuttgarter Widerstand erläutert, weshalb die für den Kopfbahnhof in Stuttgart Engagierten keinerlei Anlass haben, in Depression zu verfallen, wenn es am Sonntag schief geht. Dem ist von mir nichts hinzuzufügen.

www.nachdenkseiten.de/?p=11425

Nur eine Sache ist unbedingt noch hervorzuheben: der Ausgang dieser Volksabstimmung ist geeignet, uns alle hier wieder auf den Boden zurück zu bringen und uns erstens daran zu erinnern, wo wir leben. Und zweitens endlich einmal wirklich zu verstehen, was für ein sensationelles Ereignis die letzte Landtagswahl war – und wie viel sensationeller die Umfrageergebnisse derzeit sind.

Man kann sich dies alles dadurch vermiesen, dass man jetzt in Selbstmitleid und Gejammer verfällt, das Kapital in seinem zurückgewonnen Machtrausch auf die Regierung losgehen lässt – es dabei womöglich auch noch durch eigene Attacken unterstützt - und sein Leben von der täglichen Jauche und dem sich täglich verengenden Tunnelblick der S21-Mafia bestimmen lässt. Selbst wenn der Schlossgarten zerstört werden sollte, die Mineralquellen ruiniert werden sollten, so banal es auch klingt: das Leben geht weiter. Es braucht nur genügend Trauerarbeit und der Kopf wird wieder frei. Und mit ihm die Kreativität und Phantasie, die es braucht, um auch aus einer solchen Situation das beste zu machen.

Sich auch noch dauerhaft dem Schmerz der Niederlage zu überlassen, ist nur im Sinne der vermeintlichen Sieger, die in Wahrheit die Verlierer sind. Sie haben am Ende eine ruinierte Stadt und ruinierte Finanzen zu verantworten. Sie werden von den Kollateralschäden der Baustelle am meisten betroffen sein. Und sie werden es zu verantworten haben, wenn am Ende der Wirtschaftsstandort und der Wohlstand hier zu Schaden kommen sollten – was ich persönlich erwarte. Wer nicht auf Aufklärung hören will, muss bekanntlich fühlen.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch ist Kampf angesagt, an dem ich mich – so der derzeitige Stand – nicht mehr schreibend beteiligen möchte. Das Nötige dazu habe ich in meinem letzten Beitrag gesagt. Ob und wie ich mich daran sinnvoller und weniger frustrierend beteiligen werde, bleibt noch abzuklären.

Allerhöchste Zeit ist es jetzt auch dafür, endlich zu bekennen, dass es mir scheißegal ist, ob dieser Tunnelmist gebaut wird oder nicht. Und dass ich meine Trauerarbeit in punkto Schlossgarten spätestens Ende letzten Jahres abgeschlossen habe. Der Rest war und ist Solidarität mit Menschen, denen ich nur das Allerbeste wünsche, weil ich sie großartig finde. Denen wollte ich das, was ich hoffentlich einigermaßen kann zur Verfügung stellen. Sie bezahlen aus ihren Steuern schließlich mein Gehalt.

An sie also noch dies: Lasst euch nicht in das Spiel der Gegner hineinziehen und euch und euer Leben versauen. Behaltet die Verfügungsgewalt über euer Leben auch in dieser Sache, soweit möglich, bei euch selbst. Und wenn nichts mehr zu machen sein sollte, was ich noch lange nicht sehe, dann versucht es einfach mal damit:

Setz dich an einen Fluss und warte: Die Leichen deiner Feinde werden schon bald vorüber treiben.“

www.sprueche-ueber-sprueche.de/index.php?page=indianersprueche&;sprueche-id=1

Ob indianisches Sprichwort oder chinesisches Sprichwort oder Übersetzungsfehler – ist gut und tut gut. Einen Fluss haben wir. Und es ist eine mögliche Art, oben zu bleiben.

p.s. Hat heute schon jemand etwas vom Quorum gehört....?

Etwas andere Blickwinkel gibt es hier:

www.stern.de/politik/deutschland/stuttgart-21-wird-gebaut-der-filz-siegt-1755974.html

www.freitag.de/community/blogs/kopfmachen21/s21-die-grosse-ueberraschung-badener-intelligenter-als-die-schwaben-

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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