"Gesellschaftliche Anschauungen": Schwarz-Gelb beschließt Hartz-Fünf

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Fünf Euro - dass die so genannte Erhöhung der Regelsätze für die insgesamt mehr als 6,5 Millionen Hartz-IV-Empfänger so skandalös niedrig ausfallen würde, hatten wohl nur die wenigsten für möglich gehalten. Mag sein, dass die symbolische Wirkung jenes Betrages, dieser im wahrsten Wortsinne „Hartz-Fünf“ zu nennenden Einigung, die nach einem Aufschlag zur Ruhigstellung der ohnehin Ausgeschlossenen klingt, die Wut schürt. Man kann sich dessen aber nicht sicher sein. Diese Regierung will am Ende sogar noch dastehen als eine Koalition der Gutmütigkeit. Die „sehr sachbezogenen und rationalen Berechnungsmethoden“, von denen Angela Merkel jetzt spricht, hätten ja angeblich dazu führen müssen, dass die Kinder-Regelsätze sogar sinken. Wenn Ursula von der Leyen nun von „Vertrauensschutz“ redet, tropft der Hohn aus allen schwarz-gelben Poren.

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Der Regelsatz für Erwachsene soll nach dem Willen der Regierungskoalition von 359 auf 364 Euro im Monat steigen. Während bestimmte Ausgaben künftig nicht mehr berücksichtigt werden, etwa die 19 Euro für Tabak und Alkohol, sind nun Posten für die Praxisgebühr und das Internet einbezogen worden. Flatrate statt Fluppe? Es gilt bei Union und FDP die Parole, der Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht gelassen habe, sei ausgeschöpft worden. Und jeder, so die Kanzlerin, könne sich demnächst von der Richtigkeit der Berechnungen überzeugen.

Allein um die kann es aber nicht gehen. Die Karlsruher Richter hatten nicht bestimmt, wie hoch die Regelsätze ausfallen sollen, sondern lediglich ein vernünftiges Verfahren zu deren Herleitung angemahnt. Der Umfang des Anspruchs hänge „von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen“, hieß es in dem Urteil.

Eben diese „gesellschaftlichen Anschauungen“ sind es, welche die Länge des politischen Hebels ausmachen, mit dem eine angemessene Grundsicherung zu erreichen wäre. Darüber hat es seit dem Urteil keine breite Diskussion gegeben - und auch zu wenig öffentlichen Druck. Es wird viel davon abhängen, dass genau der jetzt entsteht. (Wegen der Hegemonie: Eine aktuelle Umfrage behauptet, eine deutliche Mehrheit wäre gegen eine Erhöhung der Regelsätze. Und auch die Frankfurter Allgemeine hält standesgemäß noch jede Erhöhung für ein falsches Signal.) Für den Herbst sind Demonstrationen gegen die schwarz-gelbe Sparpolitik angekündigt, aber ob eine vergleichbare Beteiligung wie gegen die Atompolitik der Regierung zustande kommt, ist offen.

Das Karlsruher Urteil - hier
Was sagt das Urteil? Erläuterungen von R. Blaschke - hier

Dabei wäre das so wichtig. Nicht nur mit Blick auf eventuell noch mögliche Korrekturen nach oben bei der Hartz-Neureglung durch Schwarz-Gelb. Sondern vor allem mit Blick auf die politische Zukunft: Wenn andere Kräfteverhältnisse nicht nur als veränderte Farblehre daherkommen soll, müsste das Fundament für einen Politikwechsel jetzt gelegt werden. Auf der Straße, in den Betrieben, auf den Theaterbühnen und in den Fankurven. Noch der ernstgemeinteste Anspruch einer wirklich anderen Sozialpolitik könnte sonst auch unter anderen parteipolitischen Vorzeichen von „sehr sachbezogenen und rationalen Berechnungsmethoden“ wieder kassiert werden. Dann sind es vielleicht nicht mehr nur fünf, sondern 25 Euro. Klar ist jedoch: Alles unter den von den Wohlfahrtsverbänden geforderten 420 Euro wäre keine echte Verbesserung für die Millionen Betroffenen. Und in Wahrheit ist selbst das noch längst nicht jener Betrag, der für ein Leben ausreicht, das diesen Namen auch verdient.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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