Vom Wendland vor den Bundestag? Die Grenzen sozialpolitischer Proteste

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Die diesjährige Castor-Proteste im Wendland sind mit Recht als eine der gelungensten Massenaktionen der vergangenen Jahre bezeichnet worden. Viele Leute, lange Blockade, positives Echo. Und zweifellos hat der Schottern-Aufruf, eine Strategie der dosierten Radikalisierung, dabei großen Anteil. Aber es bestand eben auch eine „günstige Gelegenheit“ zum Erfolg: der medial überpräsente Atomkonflikt, das Reden über eine neue Bewegungslust von jungen Leuten und Mittelschichten, die gewachsene Grundskepsis gegenüber Großeinsätzen der Polizei nach dem „blutigen Donnerstag“ von Stuttgart und so weiter. Der Erfolg im Wendland hat inzwischen Hoffnungen geweckt – nicht zuletzt, dass der erfolgreiche „zivile Ungehorsam auch auf andere Politikfelder ausgeweitet werden“ könne.

So formulieren es die linke Bundestagsabgeordnete Inge Höger und ihr Mitarbeiter Carsten Albrecht und sehen als einen „konkreten Anlass“ unter anderem „die von linken Gruppen geplante Belagerung des Bundestages anlässlich der Verabschiedung des unsozialen Kürzungspaketes am Freitag dieser Woche.“ Aber ist ein Anlass auch eine „günstige Gelegenheit“ der Art, wie es die Wendland-Proteste waren? Von deren „Setting“ werden die Sozialproteste gegen Hartz-Neuregelung und Gesundheitsreform kaum profitieren. Der Rahmen, in dem sich sozialpolitischer Widerstand bewegt, ist ein anderer.

Das geht schon bei den eher bürokratischen Fragen los. Es gibt kaum große Organisationen, die ihr Potenzial (Öffentlichkeitsarbeit, Anreisemanagement etc.) in den Dienst der geplanten Bundestagsbelagerung stellen. Die in diesem Zusammenhang bisher wichtigen Gewerkschaften mobilisieren zu eigenen Veranstaltungen, die unterschiedlichen Interessenlagen sind im DGB unübersehbar. Selbst auf europäischer Ebene standen sich die Motive von Gewerkschaften teilweise unverbunden gegenüber: die IG BCE protestierte beim Aktionstag in Brüssel für Kohlesubventionen, andere gegen Sozialabbau. Martin Kaul hat Ende September in der Tageszeitung einen Gewerkschafter mit den Worten zitiert: „Das getrennte Marschieren in Deutschland ist eine gewollte Schwäche.“

Der nächste Punkt: die Öffentlichkeit. Es gab in den vergangenen Wochen keine besondere sozialpolitische mediale Dynamik. Hartz V, Rente mit 67 und Klassenmedizin spielten zwar in der Berichterstattung eine Rolle - aber nicht in der „verdichtenden“ Weise wie im Atomkonflikt (Gegner versus Befürworter) beziehungsweise bei Stuttgart 21 („Wir hier unten gegen die da oben“). Im Gegenteil: Eher schreiben die Zeitungen voneinander den Allgemeinplatz ab, dass die sozialpolitischen Proteste vergleichsweise klein ausfallen. Oder es lebt der alte Interessenjournalismus auf, der Frank Bsirskes Mittelfinger-Pose skandalisiert - und damit den Gewerkschaftsvorsitzenden als „unseriös“ und „pöbelnd“ hinstellt, der bisher am vehementesten in der Debatte aufgetreten ist und dessen Plädoyer für ein politisches Streikrecht sogar die Kanzlerin zu einer Reaktion nötigte.

Hinzu kommt seit ein paar Tagen: Der schwarz-gelbe „Herbst der Entscheidungen“ verschwindet hinter dem „Terror“-Thema - und mit ihm alle Versuche, dagegen laut und vernehmlich zu protestieren. Mancher hat bereits gemutmaßt, dass dahinter eine Absicht stecken könnte. So oder so: Eine Aktion in der Bannmeile, die an die Strategie der dosierten Radikalisierung explizit anzuknüpfen versucht, wird es angesichts der „Gefahrenlage“ nicht einfacher haben. Wirkmächtige Bilder, wie sie noch von der „Flutung“ des Regierungsviertels durch Zigtausende Atomkraftgegner im September in Erinnerung sind, werden sich da kaum erzeugen lassen.

Vor allem aber gibt es „ein grundsätzliches Problem“, auf das unter anderem Wolfgang Kraushaar vor ein paar Wochen im Tagesspiegel hingewiesen hat: Die Linken, also nicht nur die sich so nennende Partei, haben mit der „Klassenspaltung im Protestverhalten“ zu kämpfen. „Während die Exponenten der Mittelschichten ihre Anliegen immer effektiver einbringen, misslingt das den Unterschichten.“ „Armut führt zu Vereinzelung und Resignation“, sagt Kraushaar, und die Linke kann nicht behaupten, einen mobilisierenden Ausweg gefunden zu haben. Über die oft formulierte Forderung hinaus, es müsse eine dezentrale Kultur der erlebten Solidarität, des Lernens im gemeinsamen Protest und so weiter geben, ist bisher nicht allzu viel passiert. Eine zweite Dimension von Resignation hat Wolf Wetzel vom Koordinierungskreis der Aktion Georg Büchner angesprochen - zu einem Zeitpunkt übrigens, als das für Oktober geplante Projekt Bankenblockade noch nicht wegen offenkundiger Mobilisierungsschwäche abgesagt war. Eine Belagerung des Bundestags Ende November zur letzten Lesung des neuen Haushalts werde zu spät kommen, dann „herrscht bereits Resignation und alle haben das Gefühl, es ist gelaufen“.

Schließlich und vielleicht am wichtigsten: die Frage der Solidarität. Franz Walter hat vor ein paar Wochen auf das Phänomen verwiesen, dass zwar einerseits in den Klassenlagen, die man die Mittelschicht nennt, der Zuspruch für Mindestlöhne, eine Bürgerversicherung, ein früheres Renteneintrittsalter und so weiter zugenommen hat. „Doch deswegen ist die gesellschaftliche Mitte nicht unmittelbar solidarisch oder links“, so Walter. Eher zeige sich eine steigende Aggression gegen „die da unten“ und gegen Migranten, die sich aus Abstiegsängsten jener Milieus speist, die selbst in den sechziger und siebziger Jahren in den Genuss sozialen Aufstiegs gekommen waren und nun angesichts von Krisenfolgen und Sparpaketen den sozialen Abstieg fürchten. Verkürzt könnte man sagen: Die gewollte und seit den siebziger Jahren durchgesetzt Spaltung in In- und Outsider am Arbeitsmarkt lässt die einen neidisch über die ach so hohen Facharbeiterlöhne bei VW werden - und die anderen nach unten treten, weil sie sich kaum einmal vorzustellen wagen, dass höhere Sozialleistungen, neue Teilhabesysteme und durchgreifende Bildungsoffensiven aus umverteilten Profiten und Vermögen bezahlt werden, statt aus Abgaben der Arbeitnehmer-Mitte, also ihren Geldbörsen.

Die „Klassenspaltung im Protestverhalten“ ist also nicht bloß eine Frage der kulturellen Distanz oder ein Ergebnis der Tatsache, dass die einen zu Haue bleiben müssen weil nur die anderen das Fahrgeld haben, um zum Protest-Event anzureisen. Sondern auch ein Beleg dafür, dass die Krise des Kapitalismus keineswegs mit einer durchgreifenden Krise der „neoliberalen“ Hegemonie einhergeht. All das spricht keineswegs gegen eine Mobilisierung für den 26. November – im Gegenteil. Es schadet aber auch nicht, sich über die realen Möglichkeiten im Klaren zu sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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