Kein Gedanke zu tief, kein Kopf zu schwer

Anatomie II An der Halswirbelsäule offenbaren sich Mythologie und Dialektik des Abendlands

Der Riese Atlas muss ein athletischer Mann gewesen sein, denn sonst hätte er wohl kaum die Welt auf seinem Nacken und mit seinen Schultern stemmen können. Doch der erste Halswirbel, ebenfalls „Atlas“ geheißen, ist ein zartes Gebilde. Nun – er trägt ja auch nur den Kopf, und nicht die Welt, wiewohl die Kephalozentriker immer wieder behaupten, dass die Welt im Kopf sei. Und wär’ sie’s, so trüge man an ihr nicht schwer, zumindest nicht physisch, denn der Atlas legt Zeugnis davon ab, erist der kleinste aller Wirbel. Weil er eben nur den Kopf tragen muss; nach unten hin, wo sich die Lasten des Körpers sammeln, werden die Wirbel freilich immer größer und massiver.

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Der titanische Atlas der Mythologie konnte mal eben schnell weg, um dem Herakles die Äpfel der Hesperiden zu besorgen. Der anatomische Atlas kann das nicht, denn er ist mit ausgesprochen soliden Bändern am Hinterhaupt befestigt, wovon Ihnen die Anatomen, die öfters in die Verlegenheit kommen, einen Kopf abschneiden zu müssen, ein Lied singen können. Herkuleische Kräfte sind an dieser Stelle fehl am Platze. So zugfest sind die Ligamente, die Bänder, die den anatomischen Atlas an den Kopf und damit an seinen Jobfesseln, dass dem Anatomen nur „positive thinking“, die Fügung ins Unvermeidliche bleibt, die affirmative Einstellung zum eigenen Schicksal.

Und in der Tat: Der anatomische Atlas ist der Knochen der Affirmation, denn in den beiden Gelenken zwischen ihm und dem Hinterhaupt findet das Nicken des Kopfes, mithin also die Geste der Zustimmung statt. Die flachen Wannen, die Sie beiderseits am Atlas sehen, sind seine Gelenkpfannen, am Hinterhaupt finden sich zwei längsovale Höcker, die von oben her in sie eingreifen.

In geradezu Hegelscher Dialektik ändert aber der Atlas sein Wesen, wenn man ihn von unten her beschaut, vom folgenden Halswirbel aus: Denn zwischen jenem und ihm findet das verneinende Hin- und Herwenden des Kopfes statt, der Atlas wird zum Negationsknochen. Der zweite Halswirbel, „Axis“ geheißen, trägt an seiner Oberseite einen zahnartigen Fortsatz, der in den ringförmigen Atlas eingreift. Um diesen „Dens axis“ herum dreht sich der Atlas mitsamt dem Kopf, weswegen man den zweiten Halswirbel samt seinem Zahn manchmal auch den „Epistropheus“, den „Umdreher“ nennt.

Oh, die Dialektik ist aber noch subtiler! Sehen Sie sich doch den Atlas und den Epistropheus noch mal genau an – dem Atlas fehlt etwas, was der Epistropheus und auch die anderen Wirbel haben: der eigentliche Wirbelkörper nämlich. Das, worum sich der Atlas dreht, der „Dens“, das ist nämlich eigentlich des Atlas’ Wirbelkörper, der aber nicht mit dem Atlas selbst, sondern mit dem unter ihm liegenden Wirbel verwuchs. Mit anderen Worten: das Gelenk der Negation geht mitten durch den Atlas selbst hindurch, es zerreißt ihn sozusagen – nur äußerlich scheint er sich affirmativ und positiv zu seinem Schicksal zu verhalten, das ihn ewig nickend an den Kopf fesselt, in seinem Innern aber rumort die Negation. Voilà, Sie sehen: Mit ein wenig gutem Willen kann man sogar die Psychologie eines Knochens beschreiben. Und wer weiß, vielleicht ist ja nicht nur das Hirn beseelt, sondern auch jedes Knöchlein, jede Faser, ja, die ganze Welt.

Sie schütteln den Kopf, wackeln mit Ihrem Negationsknochen, und denken: „Der spinnt ...“? Mag sein. Und deshalb erlaube ich mir, in aller Freiheit, wie sie nur den Narren eignet, zum Schlussein Zitat von Spinoza zu verfremden: „Ihr Atlas, wenn er ein Bewusstsein hätte, würde meinen, er habe ‚Nein‘ sagen wollen.“

Nur die Einheit aller Knochen macht den Händedruck: Manchmal funktioniert Sprache auch ohne Worte

Helmut Wicht ist Privatdozent in der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main

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