Derrida und die Wattestäbchen, oder: Warum das „Heilbronner Phantom“ keine Meldung aus der Rubrik Vermischtes ist, sondern politische Fragen beantwortet
Schließen Sie alle anderen Faktoren aus und der, der übrig bleibt, entspricht der Wahrheit“, sagte Sherlock Holmes einmal – er nannte das Deduktion. Die Semiotik, die Wissenschaft der Zeichen, ist dem Detektiv hier nicht gefolgt und hat für seine Art der Schlussfolgerungen den Begriff der Abduktion vorgeschlagen. Im Gegensatz zu Deduktion und Induktion, die immer mit dem Bekannten operieren, erweitert die Abduktion die Erkenntnis. Sie bildet gegen alle Wahrscheinlichkeit eine Hypothese, die zumindest bei Sherlock Holmes fast immer die Wahrheit erschließt.
Etwas Ähnliches schien sich jüngst im Fall des so genannten Heilbronner Phantoms ereignet zu haben. Eine beeindruckende Zahl an Polizisten suchte jahrelang nach einer UwP, einer „Unbekannten
bekannten weiblichen Person“, deren DNA an vierzig verschiedenen Tatorten entdeckt wurde. Wie Sherlock Holmes aus Ascheresten oder Bodenspuren den rauchenden Täter, seine Sprache, Physis und Gewohnheiten zu folgern vermochte, so woben Kriminalisten zwischen Frankreich, Österreich und dem Südwesten Deutschlands ein Netz, in dessen Mittelpunkt eben besagte UwP stehen sollte. Der Stoff, aus dem gewebt wurde, waren Schuppen, Speicheltropfen, Blut- und Schweißpartikel, genauer: die sie verbindenden Genabdrücke. Verschiedenste Orte, unterschiedlichste Taten von Mord bis zur Beschaffungskriminalität zwischen 1993 und heute trafen aufeinander in ein und derselben Identität. Und da der Erforschung genetischen Materials rechtliche Grenzen gesetzt sind, war außer der Identität der Proben nur klar, dass es sich um eine weibliche Person handeln musste oder um eine Transsexuelle – eine Täterin, Komplizin, Zeugin? Die seit Kurzem bekannte Pointe: Die Spuren stammen von der Verpackerin der Wattestäbchen, die bei der Spurensicherung zur Anwendung kamen.Aus einer anderen Perspektive war an der Spur allerdings von vornherein nichts klar. Das erinnert an einen anderen Kommissar: „In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, dass es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die *Differenz, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.“ Das schrieb Jacques Derrida vor 40 Jahren in seiner Grammatologie. Derrida ist der Begründer der kriminologischen Disziplin der Dekonstruktion. Deren Vertreter suchen Eindeutigkeiten und scheinbare Wahrheiten zu unterminieren, verfolgen Logo- wie Phallo- oder Ethnozentrismus, zeigen, dass das vermeintlich Eindeutige immer auf einer unterdrückten Zweideutigkeit beruht.Traum der VernunftIn den frühen Schriften von Kommissar Derrida steht die Spur bedeutungsgleich neben dem späteren Leitbegriff der differance, einem nur im Französischen möglichen Spiel mit dem lautgleichen Bedeutungsunterschied zur difference (weshalb man sich im Deutschen mit einem * behilft), der Aufschiebung und der Unterschiedlichkeit. Was bezeichnet also diese differance? Bleiben wir beim Bild der Spur. Stellen Sie sich vor, Sie gehen am Flutsaum eines Meeres entlang und sehen eine Spur, womöglich einen menschlichen Fußabdruck. Gut aufklärerisch ließe sich mit Voltaire folgern: „Aha, ein Mensch, groß wohl und schwer nach Umfang und Tiefe des Abdrucks.“ Nach der Logik des Linguisten de Saussure käme man aber nur so weit festzustellen, dass es sich um die Anwesenheit einer Abwesenheit handelt. Dieser Mangel an Bestimmung entspricht der Natur des sprachlichen Zeichens; wären die Dinge zuhanden, brauchten wir keine Worte – und so ist das sprachliche Zeichen die Spur von etwas, das einst da war. An dieser Stelle riskiert Derrida den Sprung in eine andere Zeitlichkeit: Die Spur im Sand ist die von jemandem, der dort gegangen sein wird.Das Denken muss sich ins Futur II begeben, was reichlich unbequem ist, aber ein gutes Bewegungstraining. Auf diesen zugegeben komplizierten Nenner gebracht, stellt sich der Wattestäbchenfall, in den sich das Phantom von Heilbronn mittlerweile verwandelt hatte, ein wenig anders dar. Fraglos sind die Kriminalisten davon ausgegangen, dass ihr Phantom an den diversen Orten gewesen war, sie dachten also im Plusquamperfekt. Daraus allerdings haben sie ein Subjekt in Raum und Zeit konstruiert, das nie gewesen sein wird. Ein anderes Subjekt gab es schon: Eine Person, die in einer Fabrik arbeitete, schwitzte, blutete und Schuppen aus Haut und Haaren verlor. Daraus setzten die Sonderkommissionen eine Identität zusammen, eine offensichtlich imaginäre, mit Hoffnungen aufgeladene Figur. Eine Schlüsselfigur, die bei allem Geheimnisvollen, das ihr anhaftete, doch versprach, eine Vielzahl verschlossener Türen zu bis dato ungeklärten Verbrechen zu öffnen. Man kann sagen, dass die Kriminologen einen alten Traum der Vernunft weiter geräumt haben, der seit dem Maler Goya Ungeheuer produziert: einen serial killer, geboren aus der Sehnsucht nach einer Erklärung.Marx’ GespensterIn einer anderen, vielleicht post-dekonstruktivistischen Hinsicht bezeugt der genetische Abdruck auf dem Wattestäbchen die Abwesenheit der vermeintlichen Täterin. Dass ihr Genmaterial die Funde an den Tatorten kontaminiert, beglaubigt im Umkehrschluss, dass sie in der Produktion war. Auf eine hintersinnige Weise kommt in der globalisierten, bis vor Kurzem noch dem Wagemut des abstrakter werdenden Kapitals huldigenden Gemeinde noch einmal Arbeit vor – mit all der Emphase, die der Begriff hatte. Es ist auffällig, dass etliche Monate ins Land gingen, bis den Ermittlern die Idee kam, einmal ihr Werkzeug in Frage zu stellen. Ein Werkzeug, das offensichtlich nicht in sterilen Räumen von Maschinen, sondern von Menschen mit eigenem genetischem Material produziert wird.Und damit sind wir bei einer anderen Geschichte, einer Gespenstergeschichte. Und zumindest seit den gothic novels des ausgehenden 18. Jahrhunderts haben die einen Bezug zu den Kriminalgeschichten. Vor nun auch schon 16 Jahren dachte Derrida über Marx’ Gespenster nach, ausgehend vom ersten Satz des Kommunistischen Manifests: „Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Kommunismus.“ Genau die Angst vor dem Gespenst ist für Marx wie Derrida Indiz der Relevanz eines Spuks, den man nicht ohne Weiteres los wird. Der Kommunismus ähnelt auf einer sozialpsychologischen Ebene der UwP, die Wattestäbchen verpackt. Aus einer Vielzahl von Einzelphänomenen wie Theoremen entsteht etwas, was tatsächlich als Gespenst zu bezeichnen ist. Angstbesetzt und fern von den Konkretionen, aus denen das Imago konstruiert wird, um sich schließlich in einem nicht-derridaschen Sinn in der Konkretion wieder zu dekonstruieren.Hinter der wahnsinnigen Serienmörderin, dem unheimlichen Monster, steht die Wattestäbchen verpackende Arbeiterin, und auf eigenartige Weise geht die Sensation mit Enttäuschung einher: Och, das mordende weibliche Ungetüm gibt es nicht, das ist nur der genetische Schmutz der Arbeiterin? Was sich hier, im Kriminalistischen, noch irgendwie verwinden lässt, geht auf der ideologisch-politischen Ebene nicht. Was wäre, wenn der reale Kommunismus so profan wäre wie eine mit der Produktion von Wattestäbchen befasste Frau?Wechseln wir noch einmal die Perspektive. Kriminalistische Methoden dienen der Erfassung einer Identität mit einem bestimmten Ziel: das identifizierte Individuum haftbar zu machen. Kurioserweise gelingt es nicht, den größten Diebstahl aller Zeiten, die Vernichtung von Werten in historisch nie zuvor dagewesenem Maße kriminalistisch zu behandeln. Die gegenwärtige Krise evoziert nicht einmal die Frage nach dem genetischen Material. Das allerdings verweist auf die Sphäre der Produktion als einer auch von hedgefonds und future bonds unhintergehbaren. Damit stehen die Gespenster wieder auf dem Plan und dekonstruieren die Dekonstruktion, selbst wenn sie Wattestäbchen verpacken, indem sie eine alte Frage stellen: Was tun?