Arthur Schönengel, ein kleiner, lascher Mann, bekommt eine Vorladung in die „Bude“, die tatsächlich ein riesiges Gebäude ist und ganz oben in einem Leuchtturm zu enden scheint. Er wird im Kellergeschoss in einer Art von Großraumbüro angestellt, erhält eine Kiste mit Arbeitsmaterial und heißt fortan so wie alle anderen dort, Weisslich.
Den Vorgesetzten hat man als „Herrn Weisslich“ anzureden, und dessen Chef gehört zur Ebene derjenigen, die „Lieber Herr Weisslich“ heißen. Eine einleuchtende Hierarchie, die übrigens nicht endet bei einem Mann, der als „Ruhmreicher Agnus Dei Nobler Anführer Tugendhafter Illustrer Exzellenter Ehrenwerter Mein Sehr Lieber Herr Weisslich“ bezeichnet wird.
Die Sch
rd.Die Schweizer Autorin und Regisseurin Marie-Jeanne Urech, Jahrgang 1976, hat einen so konsequenten wie irrwitzigen, einen beklemmenden und schreiend komischen Roman über „den“ Konzern geschrieben; eine Fantasie über ein undurchschaubares System, dessen Bezüge zur Realität auf der Hand liegen.Womit wird in der mächtigen Bude das Geld verdient? Keiner weiß es, aber alle sind beschäftigt. Schönengel-Weisslichs Aufgabe ist es, aufsteigende Linien zu zeichnen. Mit seinem stumpfen Stift gelingt das nicht gut; Bleistiftspitzer werden allerdings wegen Missbrauchs nicht mehr verteilt.Eine Etage höherIn der Halle des Hauses herrscht ein ständiges Geschrei über Hausse, Baisse, Gewinn und Verlust. Dort drängen sich ganze Menschenmassen darum, Verträge zu unterschreiben. Unten im Keller schlafen die Weisslichs über ihrer Arbeit ein; die Bude bezahlt sie nicht, aber es gibt eine Mahlzeit täglich.Man hofft darauf, eine Etage höher aufzusteigen oder einen Blick auf die einzige Frau im Betrieb erhaschen zu können; ihre Aufgabe ist es, im Aufzug die einzelnen Stockwerke anzukündigen. Kleinliche Reibereien sind an der Tagesordnung und Einigkeit gibt es nur, wenn man einen Sündenbock findet.Urech verfremdet die Tristesse eines Angestelltendaseins; sie braucht im Grunde nur ein paar Bilder und Motive, die in immer neuen Wendungen auftauchen: Kisten, Aufzug, Etagen, ansteigende Bleistiftlinien, den Getränkeautomaten in Form einer Kuh – und, natürlich, Krisen.Der lasche Weisslich wird in verschiedene immer höher gelegene Stockwerke zitiert, um einerseits zu hören, wie hervorragend das Geschäft läuft. Andererseits will man von ihm wissen, was eigentlich los ist.Mit seinen Strichen stimmt etwas nicht; sie sind zwar präzise, aber ihnen fehlt die Anmut. Schlimmer: Im Grunde sind es Bäume, die Weißlich zeichnet. Die Bude stagniert, die Bude ist gefährdet. Also tut man am besten so, als wäre nichts.Epidemische Hysterie, Bewusstseins-, Identitäts- und andere Krisen in den oberen Etagen werfen die Frage auf, wo man abspeckt. Die mittlerweile in ein wucherndes Gewächs verwandelte Frau landet im Müllcontainer. Einer der Oberen dankt ab und erhält als Gratifikation einen Aufzug. In den unteren Etagen freut man sich aufs Nachrücken oder putzt akribisch den Arbeitsplatz.Mehrere hohe Abgedankte landen an dem vor der Bude stehenden Tannenbaum, und tatsächlich glänzen ihre Köpfe dort wie Weihnachtskugeln. Der lasche Weisslich erfährt nicht nur im 4., im 7. und 16. Stockwerk, sondern selbst im Himmelreich über den Wolken, wie wichtig seine steigenden Striche sind.Unten dagegen, vor der Bude, ist mittlerweile auch sein Vorgesetzter Herr Weisslich an den Tannenbaum befördert worden, und dieser Baum wird schließlich zersägt: Man kann treffliche Kisten aus ihm machen und Weihnachtskugeln hineinlegen.So abstrakt, so nahe an der Form der Parabel wie in Urechs Roman geht es in der gegenwärtigen Literatur selten einmal zu. Und natürlich denkt man während der Lektüre an Kafka: „Der Kapitalismus ist ein System von Abhängigkeiten, die von innen nach außen, von außen nach innen, von oben nach unten und von unten nach oben gehen. Alles ist abhängig, alles ist gefesselt. Kapitalismus ist ein Zustand der Welt und der Seele.“Die Entfremdung ist allgegenwärtig, sie reicht bis in einen traumhaft anmutenden Fluchtort. In dieser kleinen Waldung verwandelt ein Schatten die Leute oder frisst sie auf. Zum „Opfer“ wird hier jeder, aber eine entsprechende Kategorie gibt es nicht mehr. All die Weisslichs sind sich nicht einmal sicher, ob sie existieren; „es klang eindeutig hohl im Inneren eines Weisslich.“Eine einzige Nebenfigur, Johannes, erinnert daran, dass es ein Außerhalb gibt oder gab – und es ist nur folgerichtig, dass er stirbt. Die Weisslichs, die Herrn Weisslichs und so weiter wirken wie Untote; für Christbaumkugeln kommt kein Mitleid auf.Diese „Literatur aus der Arbeitswelt“ spielt auf surreale Weise mit realen Phänomenen: Größenwahn, rasender Stillstand und Inkompetenz zeichnen bekanntermaßen viele Unternehmen aus. Urech betreibt aber keine moralisierende Anklage, und ihr Roman zielt auch nicht darauf ab, dem Leser weis zu machen., es werde alles gut, wenn erst genügend leuchtende Vorgesetzten-Köpfe am Tannenbaum oder an der Laterne hingen.Kinderleichte SpracheUnd doch möchte man hier in emphatischen Sinn von einer politischen Literatur sprechen. Es gibt hunderterlei Definitionen, wie die zu bestimmen wäre – an dieser Stelle ist damit eine Literatur gemeint, die, subversiv in ihrer Sprache und Form, den Blickwinkel auf scheinbar Vertrautes öffnet.Mein lieber Herr Schönengel, ist formal beinahe märchenhaft angelegt, und geschrieben in einer rhythmisierten und dabei klaren, bald kinderleicht wirkenden Sprache. Der Inhalt erschöpft sich nicht in der Mitteilung, dass der Kapitalismus unmoralisch und obszön ist.Vielmehr taucht der Kapitalismus hier als ein tief unvernünftiges System auf, nicht zuletzt in seinem quasireligiösen Imperativ der Profitmaximierung und seiner Ausschließlichkeit, seiner Totalität. In einer grell leuchtenden, alptraumhaften Sequenz gibt sich die oberste Stimme als eine Art Gott aus, als ein Wesen, das immer schon da war und bleiben wird. Den Namen und die Funktion seines Geschäfts könnte man mit einem kleinen Wort übersetzen, es heißt: „Egal“. Ob einer nun Tomaten, Nieren oder ansteigende Linien verkauft, ob der oberste Chef schließlich eine Kneipe betreibt – es ist egal.Bei allem Grausen lacht man während der Lektüre oft. Das Lachen, schrieb der sowjetische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin, ist eine freie Waffe in der Hand des Volkes. Denn es lässt sich nicht kanalisieren und formieren, es entzieht sich jedem Dualismus – und alle Machthaber müssen es fürchten wie der Teufel das Weihwasser.Marie-Jeanne Urechs Roman ist stringent, sensibel und dabei präzise aggressiv, ganz auf der Höhe der Zeit. Die untergründige Komik wirkt als Waffe und als Verwandlungskunst; und sie sagt nicht zuletzt: Selbst wenn es im Kapitalismus keinen Grund zum Lachen gibt, ist das noch lange kein Grund, nicht zu lachen.