Still leidet der Leitwolf

Film Gruppentherapie mit Anführer - Spike Jonze hat das Kinderbuch "Where the wild things are“ verfilmt

Zu den Vorrechten der Kindheit gehört es, Welten zu bauen. Imaginäre und solche aus Decken, Kissen, Bettlaken. Welten, die in der Vorstellung wachsen aber nicht mit Erwachsenen bevölkert sind. Welten, die ihre eigenen Naturgesetze und Zeitrechnungen haben. Eine Ewigkeit in ihnen reicht in der realen Welt nicht aus, um ein Abendessen kalt werden zu lassen: „and it was still hot“ lauten die letzten fünf der insgesamt nur 338 Wörter in Maurice Sendaks illustriertem Kinderbuch Where the Wild Things Are, das nun auch verfilmt wird.

Gemeinsam mit dem vielseitigen Autor Dave Eggers (Zeitoun) hat Spike Jonze aus diesem lakonischen Klassiker einen Kinderfilm für Erwachsene gemacht, ein sorgfältig inszeniertes und erstaunlich unverspieltes Rührstück über das unglückliche Bewusstsein wilder Kreaturen. Bei Sendak sind die Monster gutmütige Untertanen ohne individuelle Psychologie. Der aus dem Kinderzimmer herbeigesegelte Max wird umgehend zum König gekrönt und löst mit schlichten Kommandos („let the wild rumpus start“) allgemeine Hochstimmung aus, von Depressionen und Ich-Krisen keine Spur.

Jonze und Eggers hingegen verwandeln die Radaubrüder (ein paar Schwestern sind auch darunter) in schwermütige Erwachsene, denen die stimmungsaufhellende Medikation vorenthalten wird. Verstrickt in gestörte Beziehungsmuster, dauergekränkt und ziemlich missgünstig, will ihnen auch durch kollektives Krawallmachen keine Vergemeinschaftung gelingen. Der untröstlichste von allen ist Carol, der großartigerweise von James Gandolfini synchronisiert wird. Carol ist der Anführer der in uneindeutige Selbstfindungsprozesse verstrickten Wilden, zum Leitwolf eignet er sich gleichwohl nicht.

Meist leidet er still und untätig vor sich hin, sinniert über Alterserscheinungen wie ausfallende Zähne und sucht Zuflucht in einer selbstgebastelten Miniaturwelt. Die US-Kritik reagierte mit Befremden auf diese Ersetzung von Sendaks fröhlichem Anarchismus durch „group therapy with the muppets“, wie der Doyen der amerikanischen Filmpublizistik Jim Hoberman schrieb.

Where the Wild Things Are ist als klassischer Fantasyfilm angelegt, mit physisch inszenierten Live-Action-Puppen und demonstrativ zurückhaltendem Einsatz digitaler Effekte. Die hipperen popkulturellen Signale sind diskret in den Hintergrund gerückt (der Soundtrack stammt von der Yeah-Yeah-Yeah-Frontfrau Karen O.). Kaum einmal kokettiert Jonze mit der verschachtelten Smartness seiner beiden vorhergehenden Arbeiten Being John Malkovich (1999) und Adaption (2002).

Post-ironisch kommt einem Where the Wild Things Are vor, als hätte Jonze kein Interesse mehr an mehrdeutigen Zeichen. Das muss man zwar nicht als Zeitgeistsignal im Sinne einer neuen Ernsthaftigkeit deuten, es fällt aber doch auf, dass Sendaks Vorlage denkbar anti-nostalgisch umgesetzt wird.

Statt den Kinderbuchklassiker mit Franchise-Potential in einen marktgerechten Blockbuster für die ganze Familie zu verwandeln, insistiert Jonze auf der Inszenierung einer kindlichen Phantasie, die vor der Zeit mit dem schuldbeladenen Wissen der Erwachsenen belastet scheint. Als Max am Ende erschöpft Abschied nimmt von den heillosen Kreaturen, blickt er ratlos auf das zurückbleibende Unglück zurück. Die wilden Kerle sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.


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