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Kultur : Elementarfarbteilchen

Metaphysischer Schlund: René Pollesch großer Theaterabend "Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!" an der Berliner Volksbühne

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Vielleicht kommt man diesem Theaterabend in der Berliner Volksbühne, diesem herausfordernd verzweifelten, mitunter quälenden, aber ungeheuer großen Theaterabend, vielleicht kommt man diesem Theaterabend am besten auf die Spur, wenn man der Wolke aus rotem Farbspray folgt, das sich Fabian Hinrichs irgendwann unter die Achsel sprüht, um die Mittel eines Theaters vorzuführen – Blut, Schweiß und Tränen –, mit dem René Pollesch nichts anfangen kann. Das Farbspray färbt nicht nur die Achsel von Hinrichs rot, es bildet eben eine Wolke, die sich langsam durch die Luft bewegt, ein Zusammenhang von lauter roten Punkten, der sich vor dem in dieser Spielzeit schwarz abgehängten Volksbühnensaal gut sichtbar auf die Zuschauer am rechten Bühnenrand zu bewegt, immer luftiger wird, und schließlich nur ein rotes Leuchten hinterlässt, von dem man irgendwann nicht mehr weiß, ob es noch die Wolke ist und nur eine Täuschung des Auges.

Teilen mit der Hete

Irgendwohin muss das Farbspray ja sein. Und das ist im Prinzip die Frage dieses Abends: Wo verläuft die Grenze zwischen Innen und Außen, Wirklichkeit und Erzählung, wenn man die Diffusion der Farbteilchen mit bloßem Augen nicht mehr erkennen kann. Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! markiert einen Bruch in Polleschs seriellem Modell eines vergnügt-wütenden kritischen Theaters. Was man schon daran erkennen kann, dass Fabian Hinrichs allein über die riesige, fast leere Bühne rennt, dass der sonst bei Pollesch dominierende Text seltener ist und vor allem nicht im heiteren Ton einer scheinbar naiven Verzweiflung gesprochen wird. Hinrichs deklamiert wie ein Schmierenkomödiant, der gern Ulrich Wildgruber wäre, er stellt seinen fast nackten Körper zur Disposition, imitiert Pantomime und präsentiert feixend Schlagzeug, Masken und Klavier als Partner auf der Bühne.
„Was teilen wir mit der männlichen, weißen Hete, die hier vorne spricht?“, fragt Hinrichs das Publikum. Überlegungen zur Repräsentationsfähigkeit des Theaters sind nicht neu in Polleschs Arbeit, die am Gelingen einer Kommunikation zweifelt, deren Voraussetzung Ähnlichkeit ist und bei der die Vorstellung von Sinn alles überwölbt, was nicht verstanden werden kann. Neu ist die Vermessung der Theatergeschichte bis zum Iphigenie-Zitat, dem Spiel mit der Drohung eines interaktiven Theaters, die auf den Zuschauer zielt. Dabei geht es um die Bewusstmachung der Grenze, auf der der Abend tänzelt – am Beispiel des Theaters, des Tods der Mutter, von Politik und Religion. Auch wenn Pollesch die Idee eines politischen und religiösen Theaters suspendiert, so holt er beides auf eindrucksvolle Weise in das seine wieder hinein.

Farbspray und Bretton-Woods

„1971“ ist an diesem Abend eine Feuerwerk gewordene Metapher für die Hinterfragung von Zusammenhängen, die unsere Vorstellungen von Welt bestimmen: 1971 ist das Jahr, in dem die USA im Alleingang das Bretton-Woods-System aufkündigten, bei dem der Dollarkurs an seine Deckung durch Gold gebunden war. Die Bewegung solcher Entkoppelungen, solcher Fiktionen verfolgt Ich schau dir in die Augen wie der Betrachter die Farbspraywolke vom Beginn. Politischer kann, zumal in nur wenigen Strichen gezeichnet, Theater nicht sein.
Und zugleich ist es eben Theater, und nicht Philosophie oder Politik. Was vor allem in den großen Momenten deutlich wird, in denen Popmusik billige Gefühle produziert, die aber gemeinsam mit Hinrichs’ Handlungen und Sprechen den Bühnenraum in einen metaphysisch tiefen Schlund verwandeln. „Das Spiel ist kein Schatten des üblichen ernsten Lebens“, heißt am Anfang und am Ende, und das gilt für Deregulierung und Finanzkrise ebenso. Die Fiktion will ernstgenommen werden, ohne sich über ihre Künstlichkeit zu täuschen.

Weitere Vorführungen: 20. Januar, 7. und 16. Februar. Volksbühne, Berlin

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