Performance Im New Yorker MoMA kann man der Performance-Künstlerin Marina Abramović stumm in die Augen schauen. Guardian-Autor James Wescott berichtet von einem unheimlichen Augenblick
Mitte März setzt Marina Abramović, die ungekrönte Königin der Performancekunst, sich im Atrium des Museum of Modern Art in New York an einen kleinen Tisch. Die 63-Jährige trägt ein weites, dunkelblaues Kleid und sieht ausgesprochen blass aus. Sie wird die nächsten drei Monate jeden Tag während der Öffnungszeiten des Museums an diesem Tisch sitzen, regungslos und schweigend.
Ihre Retrospektive tThe Artist Is Present im sechsten Stock des Museums ist die erste Werkschau in der Geschichte des Moma, die einer Performancekünstlerin gewidmet ist. Im Atrium erweckt Abramović den Titel der Ausstellung buchstäblich zum Leben. Wer möchte, kann auf dem leeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches Platz nehmen und Augenkontakt mit ihr a
enkontakt mit ihr aufnehmen – so lange er möchte, oder so lange er kann.„Ich muss wie ein Gebirgsmassiv sein“, erklärte Abramović mir wenige Tage, bevor sie für ihre Performance in ihr „großes Schweigen“ verfiel. Jeden Abend, wenn das Museum schließt, wird sie nach Hause gehen, doch sie wird bis zum 31. Mai kein Wort sprechen, um ihren meditativen Zustand aufrecht zu erhalten. „Das Atrium ist ein sehr unruhiger Ort, unzählige Menschen gehen hindurch. Die Akustik ist fürchterlich – es ist zu groß, zu laut. Es ist wie ein Tornado. Ich versuche mittendrin die Stille zu verkörpern.“Als ich damals mit Abramović sprach, war sie alles andere als still. Ihre notorische Unruhe und joviale Hyperaktivität liefen auf Hochtouren – ganz anders als die Kraft und Ruhe, die sie seit 40 Jahren mit beeindruckender Ausdauer bei ihren Performances unter Beweis stellt. „Die Besucher merken nicht, dass es die Hölle ist, so lange dort zu sitzen“, sagte sie mit ihrem ausgeprägten serbischen Akzent, während sie nervös herumzappelte. Nach etwa einer Stunde setzen die ersten Krämpfe ein. Ihr Hintern wird wehtun. Aber sie wird den Schmerz aushalten. „Der Gedanke zu scheitern, ist mir fremd“, betont sie. Um dem vorzubeugen kommen jeden Tag vor und nach den Öffnungszeiten des Museums eine Masseuse, ein Ernährungsberater und ein Personal Trainer zu ihr nach Hause.Warum nur tat sie diese Dinge? Ich habe sie später als die Rache der Künstlerin gegen die äußeren Gegebenheiten interpretiert. Sie wuchs unter der Diktatur Josip Broz Titos und dem häuslichen Regiment ihrer militärisch strengen Mutter auf. Mittels der Körperkunst fand Abramović einen Weg, um Regeln aufzustellen, die noch strenger waren als die, denen sie durch andere unterworfen war. Auf diesem Weg gelang es ihr, eine andere Form von Freiheit aufzuzeigen. Und die Performances waren ein unbändiger Ausdruck ihrer natürlichen theatralischen Veranlagung, ihrem Verlangen nach Aufmerksamkeit und Anbetung. Es ist unmöglich, in ihren Werken eine Trennlinie zwischen ihrem Dienst an der Öffentlichkeit und ihrem Narzissmus zu ziehen; zwischen der Diva und der Hohepriesterin.Rücken an RückenDie meisten Werke, die im Moma gezeigt werden, stammen aus den Jahren 1976 bis 1988 und sind Gemeinschaftsarbeiten mit ihrem damaligen Lebensgefährten, dem deutschen Künstler Ulay. Im Moma werden sie von einer Truppe junger Künstler, die vollkommen in ihrer Arbeit aufgehen, neu zum Leben erweckt. Ein Paar ist in einer Pose eingefroren, in der der eine auf den anderen jeweils mit dem Finger zeigt und ihn anstarrt (ein Remake des Werkes Point of Contact von 1977), ein anderes Paar sitzt Rücken an Rücken mit ineinander verflochtenem Haar (Relation in Time, 1977) und wieder ein anderes steht sich im Türrahmen nackt gegenüber (Imponderabilia, 1977). Man kann zwischen den beiden hindurchgehen, aber im Moma wurde die konfrontative Wirkung des Originals stark abgeschwächt, indem die beiden Darsteller so weit auseinander gestellt wurden, dass der Besucher sie kaum berührt.Doch die institutionell bedingte Prüderie des Moma ist nicht das eigentliche Problem. Gravierender ist, dass es dieser Wiederholung der Performances nicht gelingt die Rahmenbedingungen – den Wagemut, das Trauma und die Ausstrahlung – der ursprünglichen Werke neu aufleben zu lassen. Abramovićs Werk ist untrennbar mit ihrer und Ulays Geschichte und der Anziehungskraft des Paars verbunden. Die Stücke, die hier zu sehen sind, nehmen den Originalen ihre Unvorhersehbarkeit und Fremdartigkeit.Zu den Werken mit Ulay zählen in der Retrospektive auch Fotos der Performance Nightsea Crossing, die Abramović zu ihrem drei Monate langen Sit-In inspirierte. In den Achtzigern saßen die beiden sich in Museen auf der ganzen Welt insgesamt (mit Unterbrechungen) 90 Tage lang schweigend und bewegungslos gegenüber. Man kann wohl sagen, dass sie sich in der Frühphase ihrer Karriere masochistisch mit sich selbst auseinandersetzte; in der mittleren Phase konfrontierte sie Ulay und nun, seit 1988, konfrontiert sie direkt die Öffentlichkeit, auch wenn der Schwerpunkt nun stärker auf der körperlichen Präsenz und weniger auf dem Schmerz liegt. Auch ihre Performance The House With Ocean View aus dem Jahr 2002 dürfte für ihre Performance im Atrium des Moma Pate gestanden haben. Damals lebte die Künstlerin 12 Tage lang auf drei erhöhten Plattformen in einer Galerie, ohne zu sprechen oder zu essen; sie nährte sich allein vom anhaltenden Augenkontakt mit ihrem Publikum.Hinter dem, was sich nun im Atrium des Moma abspielt, steht also die unwiderstehliche Kraft einer historischen Logik. Am Abend der Eröffnung wird Abramović zusätzlich von ihrer Geschichte eingeholt, als eine ganze Reihe von befreundeten Performancekünstlern nacheinander ihr gegenüber Platz nimmt: Tehching Hsieh (der unangefochtene König in Sachen Ausdauer, der mit seinen einjährigen Performances in den Achtzigern Geschichte schrieb), die österreichische Feministin Valie Export und die Performance-Künstlerin Joan Jonas.Zwischen diesen Begegnungen sieht Abramović nach unten, sie schließt ihre Augen, richtet den Blick neu aus und sammelt frische Energie. Als sie das nächste Mal aufsieht, sitzt ihr kein geringerer als Ulay gegenüber. Eine hingerissene Stille senkt sich über das Atrium. Abramović bricht unmittelbar in Tränen aus, ein paar Sekunden lang hat sie Mühe, Ulays Blick standzuhalten. Aus der Superheldin wird ein kleines Mädchen – sanft lächelnd; furchtbar verletzlich. Als sie sich schließlich fest in die Augen sehen, laufen Abramović die Tränen die Wangen hinunter; nach ein paar Minuten widersetzt sie sich ihren eigenen Regeln und greift über den Tisch hinweg nach seinen Händen. Es ist eine ergreifende Versöhnungsszene – dessen ist auch Abramović sich zweifellos bewusst.Kopf auf die BrustWährend immer mehr Menschen nacheinander auf dem Stuhl Platz nehmen, wird klar, dass Abramović mit allen auf einer persönlichen Ebene kommunizieren will. Sie spiegelt die Gesten ihres Gegenübers oder die Intensität seines Blicks. Sie ist alles andere als ein Gebirgsmassiv – und ihre Zerbrechlichkeit macht diese an sich schon schwierige Performance noch strapaziöser. Doch auch das Alptraumhafte der Performance ist nichts weiter als eine Illusion: Was könnte besser sein, als drei Monate einer Öffentlichkeit in die Augen zu schauen, die nach Kontakt hungert? Kann es überhaupt eine grundlegendere Form menschlichen Handelns geben?Nachdem ich 90 Minuten in der Schlange gewartet habe, bin ich endlich an der Reihe. Ich bin unmittelbar überwältigt. Nicht von der Stärke ihres Blicks, sondern von seiner Schwäche. Sie zeigt den Ansatz eines Lächelns, gerade so wie die Mona Lisa, und beginnt zu weinen. Mein Blick wird dadurch stärker; ich muss das Gebirgsmassiv sein. Nach zehn Minuten beginne ich unseren wortlosen Dialog zu genießen. Dann, ganz plötzlich und unfreiwillig, sinkt mein Kopf auf meine Brust. Es ist, als hätte Abramović mir einen Laserstrahl geschickt, der Augenblick ist vorbei.Übersetzung: Christine Käppeler
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.