Der Lehman-Crash ist anderthalb Jahre her, die Welt hat sich verändert. Zahlreiche Autoren haben sich der Finanzkrise literarisch angenommen: sieben Romane über das Chaos
Das Wort Krise kommt aus dem Griechischen: „Krinein“ heißt scheiden, unterscheiden, entscheiden. Es bezeichnet einen Zustand, in dem klare, stabile Strukturen nicht existieren. Was zuvor als verlässlich und erwartbar vorausgesetzt werden konnte, gilt auf einmal nicht mehr. Regeln sind außer Kraft gesetzt.
In dieser Phase steht alles im umfassendsten Sinne auf dem Spiel. Menschen agieren und reagieren, sie marschieren forsch voran oder geraten in eine starre Abwehrhaltung – eine Krise ist eine Zeit der Fallhöhen. Und nichts ist für Geschichten elementarer als das: Menschen, die Entscheidungen fällen. Oder von den Entscheidungen anderer vor sich her getrieben werden, im Dominoeffekt.
Die Krise im Blick
Das Potential dieses Narrativs spiegelt sich
s Narrativs spiegelt sich auch in den Romanen zur Finanzkrise. Etwa zwei Handvoll sind bislang erschienen. Was alle eint: Sie haben die naturgemäße Unvorhersehbarkeit alles Krisenhaften fest im Blick. Der Boden schwankt, gibt nach, mal mehr, mal weniger. Da ist Clemens Meyers Gewalten, der einen in einen Strudel des Unterwegsseins hineinzieht, Bewusstseinsverschiebungen provoziert, man verliert sich. Joachim Lottmann hat mit Der Geldkomplex in erster Linie eine Ich-Erzählung über die chronische Abwesenheit von Geld verfasst, über Armut, die es zu vertuschen gilt. Drei Dollar des Australiers Elliot Perlman rückt ebenfalls das Schicksal eines einzelnen Mannes in den Vordergrund, genauer gesagt: sein langsames aber kräftiges Scheitern.Lediglich drei der Romane haben tatsächlich die Bankenwelt selbst als Setting gewählt: Kristof Magnussons Das war ich nicht gehört mit Lars Hammersteins Wo wirst Du sein und Adam Hasletts Union Atlantic zu jenen Texten, die das Desasterpanorama gleichsam vom Herd der Krise aus betrachten. Am grundsätzlichsten nähert sich jedoch Kathrin Röggla dem Phänomen der Unwägbarkeit unserer Zeit: In ihrem Erzählband die alarmbereiten pickt sie sich Alltagskonstellationen heraus, lässt die Risse im Fundament unter ihren Protagonisten von Satz zu Satz größer werden.Autor AckermannDas Faszinierende am Romanmotiv der großen Krise ist seine unleugbare Selbstreferentialität: Schließlich wurden die Banken Autoren einer eigenen Fiktion, sie schufen eine Scheinwelt aus imaginärem Geld. Jedoch fing diese Fiktion an zu bröckeln; was dann passierte, ist bekannt.Das Problem war das System selbst. Und die Gier, die alles am Laufen hielt. Die Gier nach Mehr, ausgerichtet auf den Olymp der „Masters of the Universe“, wie Josef Ackermann es einmal formulierte. Jener Josef Ackermann, der zum Abbild des machthungrigen Bankmanagers wurde, seit er seine Finger zum V geformt den Fotografen vor die Linse hielt.Nur die Liebe zähltRückblickend erscheint es, als sei dieses Foto die Vorhut gewesen, die den Zusammenbruch des Weltfinanzsystems im Spätsommer 2008 ankündigte. Es symbolisiert eine ganze Kaste des modernen Kapitalismus und ihr Verständnis von Moral. Nach dem Crash wurden die Siegessicheren von anderen Bildern abgelöst, Fotos von verzweifelten Börsianern, in deren Rücken die Aktienkurve steil nach unten krachten.Es ist eben eines jener Zeitungsbilder, das den Plot von Kristof Magnussons Roman antreibt, das Foto eines Börsenhändlers, der die Hände tragisch gen Himmel reckt. Ein Bankenroman: Der 34-jährige Halbisländer webt hier die Leben jenes Traders, eines Schriftstellers und dessen deutscher Übersetzerin ineinander. Schon der Buchtitel deutet den Perspektivwechsel an: In Das war ich nicht – entstanden übrigens anderthalb Jahre vor dem Crash von Lehman Brothers – liegt die Schuld bei einem Nachwuchsbanker in Chicago; jener Jesper Lüdemann ist leichtsinnig, er spekuliert auf einen Gewinn, nutzt ihn, um einen anderen Verlust zu tilgen. Nur: Der Gewinn kommt nicht, die Lücke wird größer, im Handumdrehen rast die Bank und mit ihr das ganze System in den Abgrund. Indem Magnusson deutlichen Wert darauf legt, der hässlichen Fratze des Kapitalismus ein menschliches, allzu menschliches Antlitz zu verpassen, verzichtet er allerdings auch auf jedwede Systemkritik. Die Story läuft auf ein Happy End hinaus. Lass die Welt zusammenkrachen, heißt das am Schluss, nur die Liebe zählt – ein durchaus süffisanter Schlenker.Durchaus vielschichtiger geht Adam Haslett zu Werke, der in Union Atlantic nicht nur die verworrene Geschäftemacherei an der Spitze der titelgebenden US-Bank schildert. Die Atmosphäre der Unsicherheit und Unerwartbarkeit schlägt sich auch auf seine Protagonisten nieder. Ein Banker und sein Bankchef, seine Nachbarin und ein Junge aus jener Kleinstadt, in der er ein protziges Designhaus hingebaut hat, sie alle sind nicht klar einer Gruppe zuzuordnen. Die Netzwerke, denen sie angehören, überlappen sich, sie sind Kollegen, Verwandte, Kleinstadtnachbarn, Liebhaber. Und entsprechend verschiebt sich ihre Haltung, ihr Impetus, ihre Persönlichkeit, je nach dem in welchem Zusammenhang sie sich bewegen. Das führt jeden Versuch ad absurdum, die Charaktere zu kategorisieren. Haslett konfrontiert seine Leser so mit ihrem manichäischen Verlangen, die Welt klar zu sehen. Die Unübersichtlichkeit der Krisenlage drückt sich hier parallel im persönlichen Miteinander aus.Lechzen nach mehrDie Gier der Banker nach Geltung sei eigentlich Ausdruck von Schwäche, befand der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann. Klar ist allemal: Wo Gier und Machtanspruch die Menschen in den Mahlstrom der Krise treibt, entstehen Geschichten. Man sieht sie einer Klimax entgegen strebend, ahnt: Danach ist das, was war, verändert. Bei den hier besprochenen Romanen fallen vor allem zwei auf, die dieses Lechzen nach Mehr im Gegenteil, der Existenzangst, aufscheinen lassen.Etwa bei Elliot Perlmans Drei Dollar, der geradezu prototypisch Aufstieg und vor allem Fall einiger Männer schildert. Der Protagonist erscheint als Stellvertreter für alle, die schlicht und ergreifend nur noch überlegen, wie sie für ihre Familie sorgen sollen und ob sie ihr Zuhause behalten können: Am Ende sitzt er in einem U-Bahn-Eingang, auf Kisten voll mit den Resten seines Arbeitslebens; er vereinbart an Ort und Stelle einen Termin beim Arbeitsamt, verdrängt, bricht zusammen. Von heute auf morgen war alles weg, doch am Ende geht es bei Perlman doch nicht ohne finalen Hoffnungsschimmer.Bankenblase en miniatureJoachim Lottmanns Erzähler rennt dem eigenen Untergang erzählenderweise davon. Der Held ist einer jener Schreiber, die sich in Berlin-Mitte als Bohemien durchschlagen, mit viel Außenwirkung, und keiner müden Mark in der Tasche. Der Alltag wird zur Kamikaze. Seine Umwelt vermutet Geld, wo keines ist. „Wann gibst Du mir endlich das Geld?“, lautet kreischend das Mantra von Elena, der Freundin des Helden. Er lässt sich notgedrungen auf diese Farce ein, teils aus Scham, teils aus Schwäche. Und täuscht Zahlkraft vor, wo keine ist. Kündigt Gewinne an, die nicht kommen werden. Lottmanns Heldenstory zeigt eine Bankenblase en miniature.Nicht zu vergessen, das Herz des Finanzsystems wurde bereits zum zweiten Mal getroffen. Die Unbeherrschbarkeit der Welt wurde 2001 allen in extremo vor Augen geführt; im Lehman-Crash zeigte sie sich erneut. In Hasletts Werk bildet der amerikanische „war on terror“ gar den Rahmen der Handlung.Fundamentale VerstörtheitJene Romane, die den Terroranschlag auf das World Trade Center verhandelten, zeugten allesamt von einer fundamentalen Verstörtheit. Am auffälligsten sicher in Jonathan Safran Foers Extrem laut und unglaublich nah, der die Sprache selbst implodieren ließ; Bildercollagen, Markierungen in Alarmrot und seitenweise Zahlenreihen dekonstruierten jeden Anspruch, die Realität abzubilden.In den Finanztexten schlägt sich die allgemeine Verfasstheit ebenfalls auf den Stil nieder. Etwa in Lukas Hammersteins Wo wirst Du sein, der Lebensgeschichte eines Mannes und einer Frau. Er entführt sie, die Frankfurter „Ikone der Finanzmärkte“ zusammen mit anderen selbsterklärten Opfern; eine Phantomfrau, von der nur der Name bekannt ist – und, wie sich zu spät herausstellt: seine Jugendliebe. Den Grundton der Unbestimmtheit evoziert Hammerstein, indem er Personalpronomina grundsätzlich uneindeutig verwendet, wer genau „er“ ist, wer „sie“, bleibt oft im Vagen. Das sollen wohl auch die kursiv gesetzten Einwürfe bewirken, die satzweise die eigentliche Erzählung unterbrechen: „Mach Dir keinen Kopf“, „Eine andere Welt ist mögl“, „Was ich Dir immer schon sagen wollte“, „Victory“ – es ist eine krude Mischung aus Management-Lingo und geronnen Alltagsphrasen, manchmal mittendrin abgehackt. Oft zwei, drei Mal pro Doppelseite. Sie kommt daher wie eine zweite Erzählstimme, die willkürlich zu kommentieren scheint, in Dialog mit dem Rest-Text tritt. Doch dieser Kniff wirkt am Ende mehr irritierend als erhellend.Atemlose SatzkettenDas ungute Gefühl, dass einem während des Lesens der Boden unter den Füßen davongezogen wird, verstärkt sich bei Clemens Meyers Gewalten. Ein „Tagebuch“, so der Untertitel, das den Erzähler Clemens Meyer im Laufe eines Jahres durch Deutschland begleitet, mal mit Datum, mal ohne. Er startet festgegurtet im weißen Weiß einer Psychiatrie, alpträumend wie im Drogenrausch, wegen der Medikamente. Das vielsagende Pendant dazu am Schluss, Ende November 2009, die Reise ins schwarz-gelbe Berlin nach der Wahl. Dort: Verwinkelte, metallkalte Bahnhöfe, die ihn in ihrer Unübersichtlichkeit überfordern, mit der Paranoia vor „U- und S-Bahnschlägern“ im Nacken wird er zum Getriebenen. Immer wieder führen atemlose Satzketten vom Hundertsten aufs Tausendste. Gedanken gehen den Weg des geringsten Widerstands, nur nicht, ach ja, beim ursprünglichen Thema bleiben. Der Erzählstil ist so kafkaesk wie kubistisch, die Bedrückung des Erzählers spürbar. „Wir fahren, wohin wir fahren“ – deutlicher kann man das Nicht-Verorten kaum ausdrücken.Von Dialogen getriebenVor allem aber Kathrin Röggla, die Theaterautorin, chronische Kleinschreiberin und Meisterin des Sprachbewusstseins, spiegelt die Krisenrealität stilistisch. Die sieben Geschichten stellen sieben Konfrontationen dar, alle von Dialogen getrieben: sei es die angstgesteuerte Radiodiskussion, der Elternabend in einer Schule, bestimmt von Amokfurcht, oder das Treffen eines veritablen Krisenstabs, eingerichtet angesichts einer Naturkatastrophe.Die Erzähler sind dabei stets nur ex negativo präsent: Sie geben wieder, was sie hörten, wie sie angesprochen wurden, treten als Sprecher selbst aber nicht in Erscheinung. Die permanente indirekte Rede, die Wiedergabe von Gesprochenem aus zweiter, manchmal auch dritter Hand, ist ein bewusstes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt: Die Realitätsebene rutscht immer weiter weg, Hörensagen potenziert hier unweigerlich den Eindruck, die Welt sei unverlässlich. So kreiert Röggla ein quasi karnevaleskes Chaos à la Michail Bachtin. Dass auf dem Cover dann auch noch die Hubschrauber aus Coppolas Apocalypse Now rotieren, und man Wagner zu hören meint, setzt dem Ganzen noch eins drauf.Das globale ChaosGrob gesagt lassen sich drei Ansätze destillieren, die das globale Chaos literarisch repräsentieren. Bei den einen stehen die Konsequenzen des Zusammenbruchs im Vordergrund, Einzelschicksale werden geschildert. Dem gegenüber finden sich die spannungsgeladenen, fast krimitauglichen Erzählstrukturen aus dem Innenleben des Bankenwesens, die den Crash ins Chaos wieder zu ordnen versuchen, per Plot Ursache und Wirkung einzelnen Personen zuweisen – nicht einem abstrakten System. Und dann sind da jene Texte, die sich des allgemeinen Krisengefühls annehmen, es stilistisch aufgreifen und die deshalb am kraftvollsten wirken.Dass ausgerechnet die abstraktesten Texte so überzeugen, liegt vermutlich auch daran, dass dieses gewisse Grundgefühl durchaus für die gesamte Phase nach 9/11 steht. Der Finanzcrash und die folgende Abwärtsspirale haben es nur noch potenziert. das Krisenhafte ist offenbar der Ausdruck eines neuen Ur-Gefühls. Ob diese Phase nur eine Verlängerung der Postmoderne ist oder etwas grundlegend Neues darstellt, wird sich noch entscheiden.