Er habe verstanden, dass ein Schriftsteller ein Ausländer sein müsse, in den Fragen, über die er schreibt – „wenn er das Material zu gut kennt, wird er so schreiben, dass ihn niemand versteht.“
Mit diesem 46. und letzten Gebot endet Warlam Schalamows (1907-1982) 1961 entstandener existenziell-poetischer Katechismus "Was ich im Lager gesehen und erkannt habe". Insgesamt 18 Jahre verbrachte Schalamow in sowjetischen Gefängnissen und Lagern, 14 Jahre davon am „Pol der Grausamkeit“, dem Gulag am Fluss Kolyma, der kältesten Region der Welt. Was er dort erlebt und erfahren hat, entdeckt die deutsche Leserschaft erst nach und nach mit der Herausgabe seiner Erzählungen aus Kolyma.
Wie für viele Überlebende blieb auch für Scha
uch für Schalamow das Lager zeit seines Lebens der Maßstab des Menschlichen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamen wird es später als einen politischen Raum entziffern, in dem der Mensch auf das bloße Dasein, das nackte Leben, den „homo sacer“ reduziert wird. „Innerhalb von drei Wochen“, erfuhr Schalamow am eigenen Leibe dort, „wurde der Mensch zur Bestie“.Gemessen an Schalamows Diktum, dass nur ein „Ausländer“, also derjenige, der dem „Material“ distanziert gegenübersteht, über das Lager schreiben sollte, wäre Herta Müller auf den ersten Blick eine ideale Besetzung. Zwar teilt die Nobelpreisträgerin die rumäniendeutsche Herkunft mit Oskar Pastior, doch das Lager blieb ihr im Unterschied zu ihrem 1927 in Herrmannstadt geborenen Dichterkollegen schon aus Altersgründen erspart. Sie kannte es vom Hörensagen oder besser: vom Verschweigen nur von der Mutter, die wie Zigtausend Siebenbürger Sachsen und Schwaben von den Russen 1945 in die Lager verschleppt wurden, um die Schuld ihres Landes, während des Krieges an der Seite Hitlers gestanden zu haben, zu sühnen.64 Kapitel vom Leben in HaftDass Herta Müller das in Atemschaukel fiktionalisierte Schicksal Oskar Pastiors nach dessen plötzlichem Tod auf der Frankfurter Buchmesse 2006 stellvertretend niederschreiben musste, legt sie in ihrem Nachwort offen. So weiß man nicht, was in der geplanten Koproduktion entstanden wäre. Doch auch in der vorliegenden Form lässt sich der Roman als eine Probe auf das Exempel lesen für das, was die Literaturwissenschaftlerin Franziska Thun-Hohenstein in Rückgriff auf den russischen Formalisten Tynjanow „gebrochene Linie“ nennt: eine Lagerbiografie ohne sinnstiftende Entwicklungslinie. Das Lager, schreibt Schalamow, sei die reine Negation und wirke auf jeden – Häftlinge und Freie – nur zersetzend. Es schneide Zukunft und Vergangenheit ab: „Ich habe gelernt, mein Leben für einen Tag im voraus zu ‚planen’, nicht weiter.“Auch dem von Herta Müller vorgestellten Lager, in das der 17-jährige Leopold Auberg aus Hermannstadt 1945 gebracht wird, fehlt ein Zeitkontinuum, das über den nächsten Tag hinausgeht. Schon formal geben die 64 Kapitel, die vom Essen, vom Fahren, von der Kohle, vom gelben Sand und so weiter handeln, keine zeitliche Abfolge der fünf Haftjahre wieder, sondern sind an den existentiellen Bedingungen des Lagers orientiert: Hunger, Kälte, Schwerarbeit, Gewalt, Krankheit und Tod. Im Unterschied zu Schalamow aber, der das Lager „in der Gegenwart“ erzählt und unmittelbar hineinspringt, liefert Müller eine Rahmenerzählung, es gibt ein kurzes Davor und Danach – und sie erzählt aus der Unmittelbarkeit der Ich-Perspektive.Der Leser begegnet Leopold Auberg erstmals beim Packen des Grammophonkoffers, den er in Ermangelung eines besseren auf die Reise mitnimmt. Das „stille Gepäck“, das er mit sich trägt, ist nicht nur das Schweigen seiner Landsleute, die ihm schuldbewusst ein paar Kleidungsstücke schenken, sondern auch das Wissen um seine Ausflüge in die Badeanstalt und den nächtlichen Park. Zunächst entlastet von der Angst, bei diesen verbotenen amourösen Unternehmen erwischt zu werden und im Gefängnis zu landen, erinnert er sich rückblickend, dass ihn „das“ im Lager das Leben gekostet habe. „Ich weiß, du kommst wieder“, mit diesem Satz, den Auberg „unachtsam mit ins Lager“ nimmt, entlässt ihn die Großmutter. Dort jedoch verselbständigt er sich, wird fünf lange Jahre zum Komplizen gegen den „Hungerengel“, der ihn fortan beschattet.Am 15. Januar 1945 um 3 Uhr früh bei 15 Grad minus holt ihn die Patrouille, pfercht ihn und weitere 500 Leidensgenossen in Viehwaggons, in denen sie „12 Tage oder 14“ in ein ukrainisches Arbeitslager verschleppt werden. Ab diesem Zeitpunkt endet die herkömmliche Zeitrechnung und die gewohnte Existenz als bürgerliches Subjekt: Die Hose runter, mit nacktem Hintern nebeneinander, in der Weite des Schnees die Notdurft verrichtend: „Vielleicht wurde in dieser Nacht nicht ich, aber der Schrecken in mir erwachsen.“Dieser Schrecken heftet sich fortan nicht an bestimmte Tage (das russische „bald“ ist die längste Zeit der Welt) oder Ereignisse, sondern an die unabänderlichen Bedingungen des Lagers. Vorab den chronischen Hunger, der, mit Wuchs und Vergehen des Meldekrauts, mühsam gezähmt, aber doch „ewig und unersättlich“ ist. In diesem ersten Lagerkapitel hält der „Hungerengel“, dieses euphemistische Geschöpf, seinen Einzug und verschwindet nicht mehr. Fünf Jahre lauert er, dealt mit Leo um Energieerhalt (1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot), setzt sich im Hirn fest: „Der Hungerengel sucht Spuren, die nicht zu löschen sind und löscht Spuren, die nicht zu halten sind“. Die Häftlinge phantasieren von Kartoffelfeldern und Hochzeitssuppe, während sie in den Kantinenabfällen wühlen oder den gelben Sand fressen. Der Hungerengel „fehlt nie, geht nicht weg, kommt aber wieder“, denn „der Hunger kennt kein Maß“.So schlimm wie der Hunger ist die Kälte. „Das wichtigste Mittel zum Zersetzen der Seele ist die Kälte“, meinte Schalamow, wobei er die Lager Mittelasiens oder der Ukraine, in denen Oskar Pastior inhaftiert war, noch als gnädig empfand. Die Kohleregion erlaubte es den Häftlingen, mit den Russen Kohle gegen Lebensmittel zu tauschen. Doch die „interlope Gesellschaft“, wie Müller sie nennt, verwahrlost mit fortschreitendem Aufenthalt. Der Nahrungsmangel, die unzureichende Kleidung, die Läuse, die schwere gesundheitsschädigende Arbeit im Zement und in den Minen machen aus Menschen Kreaturen, die nicht nur jede bürgerliche Scham verlieren, sondern, „als die Hautundknochenzeit da war, als Männlein und Weiblein nicht mehr zu unterscheiden waren“, sogar ihr Geschlecht. Die Verwandlung des Menschen in einen „dochodjaga“ – so lautet der der Gulag-Ausdruck für einen Menschen, der dem Tod näher ist als dem Leben – schreitet mit jeder Schaufel Kohle, mit jeder Schicht voran.„Ich habe das Lager, und das Lager hat mich“, fasst Leo diese Totalität der Lagerzone zusammen. „Wir liefen auf Grund“, lebten unter fremdem Willen, hat Schalamow die fatalistische Grundhaltung skizziert. Müller allerdings schreibt dem Lager auch Glücksmomente ein, jenseits der alltäglichen Qual und des allgegenwärtigen Todes: „Jede Schicht ist ein Kunstwerk“, behauptet sich Leo gegenüber seiner Knochenarbeit im Schlackekeller. Es gibt das „Mundglück“, das alleine auf der Zunge genossen werden will, und das „Kopfglück“, das nach Geselligkeit sucht.An Müllers ästhetischer Überhöhung des Lagers – an den vielen kunstvoll verflochtenen Metaphern, an der elaborierten Erinnerungssprache, an der „abgeschmackten Lyrik“ und am „blanken Entbehrungskitsch“ – schied sich die Rezeption des Romans; und manche der Einwände sind durchaus berechtigt. Ob sich Gulag-Romane allerdings, wie Iris Radisch stellvertretend in der Zeit dekretierte, nicht aus zweiter Hand schreiben lassen, ist eine ganz andere Frage.Kunst im SchlackekellerDenn auch die Lagerliteratur „aus erster Hand“ ging nicht leicht von der Hand. Dass der „Nullpunkt das Unsagbare“ ist, über „den man nicht sprechen kann, höchstens drum herum“, wie es in Atemschaukel heißt, wussten schon die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Primo Levi, Jorge Semprún und andere haben nicht nur die Überlebensschuld reflektiert, sondern auch das fortwährende Scheitern an dem Versuch, das Lager in die Wirklichkeit der Gegenwart zu holen, gerade, weil das Lager das einzig Lebenswirkliche schien. Ähnlich geht es Leo Auberg, wenn er nach 60 Jahren davon träumt, immer wieder deportiert zu werden, wenn sich die Atemschaukel überschlägt und er das Lager zwingt, ihm zu gehören. Die ästhetischen Auswege der Gulag-Überlebenden aus dieser erfahrenen Übermächtigkeit hat Thun-Hohenstein untersucht und Schalamows Ästhetisierungsverbot als radikalste Lösung beschrieben. Er forderte eine Prosa, die „durchlitten ist wie ein Dokument“.Ein Dokument „zweiter Hand“ an dieser Maxime zu messen, verbietet sich von selbst, zumal Atemschaukel sich jeder Chronistenpflicht enthebt. Dagegen zieht Müller eine zweite Ebene in den Roman, die die Sprecherpositionen markiert. Nach der Haftentlassung hält Leo Auberg im „Du“ seiner Diktandohefte fest, was bei Müller wieder in Erscheinung tritt: den Hungerengel, das weiße Taschentuch, die Initialen seiner Mitgefangenen und Schinder. Diese Hefte hat Oskar Pastior überliefert, er war aber unfähig, daraus ein „Dokument“ im Sinne Schalamows zu machen: „Für mich selbst bin ich ein falscher Zeuge“. Die Fremdheitsposition, die Schalamow in der radikalen Kargheit seiner Prosa einfordert, ist eine Form der Zeugenschaft – und nach Agamben auch prekär, weil auch dabei die der Toten nicht eingeschlossen ist. Inzwischen sterben auch die Überlebenden, und die Nachgeborenen müssen sich Gedanken darüber machen, wie ihr Zeugnis bewahrt werden kann. Ein Roman wie Atemschaukel ist nur eine Möglichkeit von vielen.