Am Anfang war das Paradies eines Kindes – die Insel Lesbos, von der aus zweimal in der Woche das Schiff Alberta das Festland ansteuerte. Die erste Musik, die Mikis Theodorakis hörte, war der tägliche Klagegesang der Frauen, die Familie mütterlicherseits hatte die „kleinasiatische Katastrophe“, wie die Griechen den türkisch-griechischen Krieg nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches nennen, aus Kleinasien vertrieben. Eines Tages kam das Schiff Alberta und nahm den Jungen mit. So begann das unstete Leben des Mikis Theodorakis, das erst den häufigen Versetzungen des Vaters als Beamter geschuldet war, neun Umzüge in achtzehn Jahren, der eigenen politischen Verfolgung in seinem Heimatland und schließlich dem Leben als Musiker und Komponi
Kultur : Ein einziger großer Gesang
Mikis Theodorakis hat viel mehr als die Musik zu „Alexis Sorbas“ komponiert. Ein Bildband ehrt den 85-jährigen Griechen
Von
Annett Gröschner
onist, der die griechische Musik zur Weltmusik machte und sie persönlich in jeden Winkel der Welt trug. Ein einziger großer Gesang gegen die Unterdrückung des Menschen, bei gleichzeitiger hymnischer Verehrung des dionysischen Genusses.85 Jahre wird der „Kreter, Grieche und Europäer“ Mikis Theodorakis am 29. Juli 2010. Der Herausgeber des zu dem Anlass erscheinenden Bildbandes, Asteris Kutulas, Weggefährte seit 30 Jahren, hat sich durch mehrere Archive mit insgesamt 17.000 Aufnahmen gearbeitet und Mikis Theodorakis Geschichten zu 300 ausgewählten Fotos erzählen lassen. Theodorakis blättert auf 160 Seiten chronologisch sein Familienalbum auf, das gleichzeitig ein Album des 20. Jahrhunderts ist. Jede Doppelseite erzählt einen Film und nur einmal läuft die Musik von Alexis Sorbas im Hintergrund, die das Griechenlandbild mehrerer Generationen geprägt hat – und leider auch das einzige ist, was den meisten Menschen zu Mikis Theodorakis einfällt. In einem Gespräch mit Joseph Beuys, das im Band abgedruckt ist, beklagt der Komponist 1972: „Ich habe Oratorien, Sinfonien, Konzerte komponiert…Kaum jemand will sie aufführen, denn man akzeptiert mich ja nicht als ‚Komponist‘. Ich bin was ‚anderes‘.“ Theodorakis wollte sich nicht festlegen lassen. Er reiste zwischen verschiedenen Polen, zwischen populärer und sinfonischer Musik, Provinz und Metropole, Athen und Paris, zwischen künstlerischer Avantgarde und griechischen Wurzeln – und gegen alle Moden.Schreie, Schlachten, BombenMit acht Jahren kam er zum ersten Mal mit sinfonischer Musik in Berührung und erlebte zum ersten Mal einen Dirigenten: „Besonders fesselte mich der Anblick dieses Menschen, der irgendwie zwanghaft mit seinen Armen herumfuchtelte. Das beeindruckte mich sehr. Ich schaute ihm verwundert zu und fragte meine Mutter: ‚Was macht der Mann da?‘ Und meine Mutter antwortete mir mit dem unglaublichen Satz: ‚Er leidet.‘ Da begriff ich, dass Kunst und Musik Schmerz bedeuten.“Mit der deutschen und italienischen Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg kam das zweite große Thema in Theodorakis‘ Leben – der Widerstand. Aus ihm erwuchsen Folter, Gefängnis und Verbannung – zuerst 1942, dann im Bürgerkrieg 1944 bis 1949 und schließlich noch einmal während der griechischen Diktatur zwischen 1967 und 1974. Theodorakis war ein Überlebender dieser Auseinandersetzungen, viele seiner Freunde starben. „Das Komponieren war für mich der Ausweg, so wie ein Gestrandeter im Glauben an seine Rettung eine Flaschenpost ins Meer wirft. Nicht mehr und nicht weniger.“ Sein Werk ist auch eine Auseinandersetzung mit der furchtbaren Klangwelt des 20. Jahrhunderts, zusammengesetzt aus den Schreien der Gefolterten, dem Schlachtenlärm und dem Geräusch einschlagender Bomben. Paris wurde zum Exil, immer wieder.Begleitet werden die Bilder und Bilderzählungen von zwei Gesprächen mit Asteris Kutulas, die auch die Widersprüche und Irrungen dieses Lebens zwischen Musik und Politik thematisieren. Die Bilanz seines politischen Lebens ist schonungslos, aber nicht bitter. „Ich musste einsehen, dass meine Ideale nicht durchzusetzen sind. Ich habe genügend Lehrgeld bezahlt und meine Enttäuschung mit allen möglichen Ismen erlebt. Es reicht. Ich vertraue nur noch dem alten griechischen Prinzip der Demokratie. Es gibt nur den Kampf um Demokratie und Freiheit, nichts weiter. In diesem Sinne fühle ich mich als Überlebender einer inzwischen getöteten Linken.“ Schon 1982 hatte Asteris Kutulas nach einer Begegnung mit Theodorakis in Leipzig einen Satz des Komponisten in sein Tagebuch geschrieben: „Die Wahrheit ist doch, dass der Sozialismus zwei Fragen nicht klären kann: die der Demokratie und die des Machtmissbrauchs.“ Letztendlich stand die schöpferische Arbeit immer über der politischen, war die Kunst das eigentliche.Wie eine GliederpuppeIn den Band eingestreut sind neben ausführlichen Werkverzeichnissen, einer Chronik und der beeindruckenden Aufzählung von 270 eigenen Aufführungen seiner Werke weltweit zwischen 1971 und 73 auch Texte von Weggefährten, die – bis auf wenige Ausnahmen –, schwächer sind als die Erzählungen von Theodorakis selbst. Manche Prominente kommen nicht über offizielle Verlautbarungen hinaus. Auch fehlen die Frauen. Zwar sind sie auf fast jedem Foto, seine Frau Myrto, Gefährtin eines Lebens zwischen Gefängnis, Verbannung, Konzertsaal und Staatsempfang, die Tochter Margarita, die Sängerin Maria Farantouri zu sehen, aber sie bleiben stumm. Das ist eine Leerstelle in dem opulenten, gut gestalteten Band.„Dasselbe, was mit dem Bürger Theodorakis passiert ist, geschieht leider auch mit dem Komponisten“, sagt Theodorakis am Ende des Gesprächs über das Komponieren als Flucht und Verwirklichung. „Meine Person ist zerstückelt wie eine Gliederpuppe, und du kannst die Einzelteile überall verstreut finden. Ich hoffe sehr, dass eines Tages irgendjemand diese Glieder zu einem Ganzen zusammensetzt.“ Dieser Bildband ist ein schöner Anfang.Dem Buch beigelegt sind zwei CDs mit Erstveröffentlichungen und einer Compilation sowie eine DVD mit der Erstaufführung des Canto General in Chile 1993, 20 Jahre nach der geplanten Uraufführung, die wegen des Putsches nicht mehr stattfand. Eine Empfehlung, Unbekanntes von Theodorakis zu hören oder die alten Platten noch einmal aufzulegen.