Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt werden kann! Nein, wie es in diesen Tagen aussieht, kann dieses freiheits- und gerechtigkeitsliebende Deutschland mit seinen demokratischen Grundwerten von den dafür zuständigen Bürgern mit oder ohne Uniform nicht mal auf einem S-Bahnsteig im Münchner Speckgürtel vor Aggressoren in Schutz genommen werden.
Nichts anderes als Grundwerte dieses Deutschlands jedenfalls verhandelt seine zivile Gesellschaft intensiv in der Öffentlichkeit, seit vor drei Wochen vor dem Münchner Landesgericht der Prozess gegen zwei Jugendliche begonnen hat. Kern der Anklage: Sie sollen einen gewissen Dominik Brunner in einer Schlägerei auf jenem S-Bahnsteig ermordet haben.
Tatmotiv
n.Tatmotiv: Der 50-jährige Manager habe sich zuvor in der S-Bahn schützend vor vier andere Jugendliche gestellt, als sie von den beiden alkoholisierten, mutmaßlichen Tätern angepöbelt und bedroht worden seien. Geldwert: Es ging nach Zeugenaussagen um 5 bis 15 Euro, die die beiden Jugendlichen bei ihren etwas jüngeren Mitfahrenden „abziehen“ wollten. Brunner ging dazwischen, überredete die vier Jugendlichen, mit ihm eine S-Bahn-Station weiter zu fahren und gemeinsam auszusteigen, die Angeklagten fuhren ebenfalls eine Station weiter. Dort verließen alle den Bahnsteig, die Schlägerei begann – über das Wie und den weiteren Verlauf liegen unterschiedliche Zeugenaussagen vor. Über das Ende der brutalen Auseinandersetzung nicht: Brunner stirbt. Ursache: Herzstillstand.Das versprochene DenkmalSoweit die groben Fakten eines Falles, den die Justiz derzeit zu klären versucht. Und zwar mit folgendem Erkenntnisinteresse: War es Mord aus niedrigen Beweggründen? War es Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge? Gerichtsroutine.Die Öffentlichkeit verhandelt den Fall ungleich spektakulärer, was nicht zuletzt dem kreativen Großeinsatz aller (Boulevard-)Medien zu verdanken ist. Hier lautet die urteilsentscheidende Frage: Ist Dominik Brunner, der an jenem 12. September 2009 sein Leben riskierte, weil er nicht wegsah, sondern Zivilcourage zeigte, vier Jugendliche vor Aggressoren schützte und dafür mit Fäusten und Füßen totgetreten wurde, nun ein Held? Ein Held, dem völlig zu Recht unmittelbar nach dem Vorfall posthum das Bundesverdienstkreuz ersten Ranges verliehen wurde, in dessen Namen kein anderer als Bayern-Präsident Uli Hoeneß eine Stiftung für Zivilcourage ins Leben rief, dem in seiner Heimatstadt sofort ein Denkmal versprochen wurde? Ein „ziviler Held“, der erst „im Heldentod seine Vollendung findet“? (FR)Oder aber ist er ein „Held mit Fragezeichen“ (Die Zeit), der „über Monate in den Medien zum Helden der Zivilcourage hochstilisiert“ wurde (Der Spiegel)? Eine tragische Figur, die nichts von einer angeborenen Herzvergrößerung wusste, weswegen sie mit zunehmendem Alter geringer belastbar war? Ein Mann, der sich nicht nur schlicht überschätzte, sondern nach einigen Zeugenaussagen sogar als erster und damit ohne unmittelbare Bedrohungsnot einem der Jugendlichen mit der Faust ins Gesicht schlug und die anschließende Brutalität somit mitverursachte? „Kein echter Mann“ (Claude-Oliver Rudolph via Bild).Ginge es nicht eine Nummer kleiner?Leider nicht. Auch wenn in diesem Fall die Diskrepanz zwischen Justiz und Gesellschaft beinahe paradox wirken mag. Das Gericht sucht ein Urteil, indem es aus unterschiedlichen Wirklichkeitswahrnehmungen der einzelnen Zeugen einen möglichst plausiblen Tathergang rekonstruiert und insofern eine angemessene Strafe findet. Da die Version der anklagenden Staatsanwaltschaft, die Brunner nach Aktenlage vor Prozessbeginn als Opfer von zwei rachsüchtigen und brutalen Jugendlichen darstellt, aufgrund neuer Zeugenaussagen wie etwa des S-Bahn-Fahrers fragwürdig wurde, nimmt es sich dafür mehr Zeit als ursprünglich geplant: Statt diesen Donnerstag wird das Gericht sein Urteil am 6. September verkünden.Die Gesellschaft hingegen fragt sich, wann ein Held ein Held ist. Und verrät in der Debatte einmal mehr einiges über ihr Selbstverständnis und ihre Widersprüche. Die Zeit des heroischen Pathos ist mit Ende des 2. Weltkrieges und der monströsen Heldenpathologie des Nationalsozialismus irreversibel vorbei. Nicht jedoch das kulturgeschichtlich in allen Gesellschaftsformen schon immer existente Bedürfnis nach Heldenfiguren. Anders gesagt, das „heroische Phantasma“ (Merkur) wirkt beharrlich. Was sich stark verändert hat, ist die Konstruktion des jeweiligen (Wunsch- und Ideal-)Heldenbildes: Welche Eigenschaften lassen den Helden als Vorbild einer Gesellschaft erscheinen, weil ihre Grundwerte in seinem Handeln plastisch werden? Die Antwort darauf kann nie objektiv gültig sein. Denn „Helden sind sicher ein Rezeptionsphänomen“, wie die Erinnerungs- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann feststellt. Auch „ein Achill war nichts ohne seinen Homer“. Heute entstünden Helden durch Filme und Boulevardpresse.Prototypische DarstellerOder durch beides zugleich. In der Tat folgt vieles in der massenmedialen Aufbereitung des Falles Brunner der Dramaturgie eines filmischen Heldenepos, wie man es standardmäßig im Kino serviert bekommt: So schilderten diverse Zeugen, wie Brunner nach dem Verlassen der S-Bahn Rucksack und Lederjacke ablegte und tänzelnd in eine Boxstellung ging. Wenn die Kamera via Zeugenberichte dann auf seinen Gegner zoomt, ergibt sich gemäß Bild folgende Szene: „Er (Markus S., der Hauptangeklagte, Anm. der A.) schrie: ‚Fuck, fuck! Ich bring dich um! Ich bring Dich um! Motherfucker“. Als Brunner leblos zusammenbricht, schildert eine andere Zeugin folgende Reaktion bei Markus S.: „Es war ein hasserfülltes Gesicht. Diese Grimasse werden wir nie vergessen. Er machte eine Siegerpose, mit Ausfallschritt, einen Arm nach oben gestreckt.“ Und seine eigene Mutter lässt sich in Bild das Zugeständnis abringen, dass Markus seine Strafe bekommen müsse, falls er wirklich „das Monster ist, als das er von Anfang an dargestellt wurde.“Womit die Cast-List zwei sehr prototypische Darsteller aufzubieten hat: das Monster, das diverse Male auffällig geworden ist, gerne kifft und trinkt, ansonsten in der Schule erfolglos bleibt. Und der Held, der in seiner Freizeit Kampfsport betrieben habe und, nach ausführlicher Aussage seines Vaters, sich als Manager und Vorstandsvorsitzender in seinem Unternehmen für Bedürftige und schwierige Fälle eingesetzt habe, außerdem großzügig spendete und – niemand könnte es besser erfinden – sehr an Literatur und Kino interessiert gewesen sei, ja sogar davon geträumt habe, einmal selbst einen Film zu drehen. Der Asoziale und der (Vorzeige-)Bürger.Denn der bundesdeutsche, demokratisierte Held (jeder kann ja einer werden) kehrt eben nicht als gefallene Kampfmaschine aus Afghanistan zurück, sondern verliert sein Leben im Einsatz auf einem Bahnsteig zum Schutz von anderen Mitmenschen. Er beweist die hochgelobte Zivilcourage. Deutschlands Schicksal entscheidet sich, soviel sollte spätestens seit den Vorfällen auf einem anderen Münchner Bahnsteig klar sein, als ein Rentner halb totgeprügelt wurde, weil er auf das Rauchverbot hingewiesen hatte, in hiesigen öffentlichen Räumen.Dieser Weg vom „heroischen Menschen zum ‚Helden des Alltags‘“, wie ihn die Historikerin Ute Frevert im Merkur-Sonderheft zum Thema Heldengedenken nachzeichnet (siehe Merkur Doppelheft 9/10, 2009), führte durch diverse Kulturepochen. Der ganz alltägliche Held wie Du und Brunner kämpft nicht mehr wie in der das Mittelalter verklärenden Romantik für die Idee einer Nation(enbildung) oder im Sinne der späteren deutschen Arbeiterbewegung gegen die Knechtschaft der Proletarier. Er rettet sich in seiner Verzweiflung angesichts der Hegelschen „Prosa der bürgerlichen Verhältnisse“ auch nicht mehr in Gesamtkunstwerksphantasien, in denen das entzweite Individuum seinem Bedürfnis nach heroischer Totalität nachkommen kann, wie es noch Wagner praktizierte. Nein, der Held des Alltags rettet schon mal die Katze aus dem Baum. Oder eben schutzbedürftige Jugendliche.Dieses zivile Heldenbild steckt jedoch in einer Krux, auf die Jörg Lau, ebenfalls in Merkur, hingewiesen hat: Mutiges, heldenhaftes, gemeinschaftsorientiertes Handeln erfordert einen gewissen Eigensinn, der nicht per definitionem im Recht sein muss, geschweige denn in dem, was das Rechtssystem als solches definiert. Brunner hat gehandelt. Ob zivilcouragiert oder übermütig und unangemessen – das bleibt weiter Verhandlungssache. Ganz unabhängig, wie das Gericht in München entscheiden wird.