Gerard Dépardieu wird auch nicht jünger. Begonnen hatte er sein Karriere als Frauenheld in Filmen von Claude Sautet (Vincent, Francois, Paul und die anderen) und Francois Truffaut (Die letzte Metro, Die Frau nebenan) in den siebziger Jahren – am Ende einer Zeit, als das französische Kino im Zuge global ablaufender Erneuerungsbewegungen in einem Ruf stand, der selbst Hollywood imponierte.
Nun sitzt Depardieu in einem Film namens Mammuth (Regie: Benoit Délephine, Gustave de Kervern), und spielt den Schlachter Serge Pilardosse, auf den nach dem letzten Arbeitstag die nervende Ehefrau wartet. Es gibt im Betrieb eine kurze Zusammenkunft, auf der Reden gehalten werden. Danach ist Schluss. Ab dem nächsten Tag wird Serge sich um seine Rentenbescheide kümmern, die
ich um seine Rentenbescheide kümmern, die er, unterwegs auf einem Motorrad, in ganz Frankreich einsammeln will.Man kann eine solche Anlage komisch finden und den trockenen, nicht unbedingt französischen Humor – in einem Lokal mit lauter Einzelgängern an den Tischen bricht ein laut telefonierender Vater plötzlich in Tränen aus – skurril. Schon der Vergleich mit Michael Schorrs deutschem Film Schultze gets the Blues aber lenkt den Blick auf die Richtung, in die hier erzählt wird. Schorrs Film von 2004 erzählt ebenfalls von dem Leben nach dem Arbeitsleben.Allah im WeinbergNach einer Eingewöhnungsphase findet der – wie Depardieus Serge – sehr mannhafte Eigenbrötler Schultze (Horst Krause) allerdings einen Weg, das Vakuum, das die Arbeit in seinen Alltag gerissen hat, mit neuem Sinn zu füllen. Der Akkordeon spielende Schultze entdeckt den Blues – namentlich eine Musikform, den Zydeco der amerikanischen Südstaaten, in der das heimatliche Polkaspiel durch allerlei Migrationsbewegungen und kulturelle Verschmelzungen auf eine neue, anregende Weise aufgegangen ist. Am Ende wiederholt Schultze mit seiner Fahrt nach Louisiana zwar eine Bewegung aus der Vergangenheit (die europäischer Auswanderer), aber er entdeckt sich selbst einen neuen Horizont: einen anders getakteten Umgang mit der Musik, die er liebt – und damit ein Leben fern der dörflichen Vereinsödnis, die ihm den Ruhestand verhagelt hat.Die Reise ins Gestern, die Depardieus Serge antritt, resultiert zwar auch in einer nachholenden éducation sentimentale – am Ende sitzt der einstige Schlachter in einem Philosophiekurs und versucht sich, ein Leben zu erklären, das Rentenbescheide nicht dokumentieren können. Aber anders als bei Schultze, der im Alter noch einmal zu neuen Ufern aufbricht in der Hoffnung, seine eigentliche Bestimmung zu finden, dreht Serge sich im Kreis: Seine Suche nach Verdienstbelegen läuft auf ein Wiedersehen mit einem Leben hinaus, das er einmal gehabt hat. Und, hier die schale Pointe von Mammuth, das für Serge nicht mehr wiederzuerkennen ist: In der Mühle, in er einmal tätig war, sitzt heute ein schickes Büro, das von der ursprünglichen Nutzung des Gebäudes nichts mehr weiß, und in dem Weinberg, dessen Besitzer Serge erklärt, dass er keine Abgaben für ihn gezahlt habe, schuften heute Bauern, die zu Allah beten. Weil der Zuschauer sich mit Serge identifiziert, blickt er auf die hier gezeigte französische Gegenwart mit einem Verdacht, der wie Serge aus der Vergangenheit kommt: Das ist doch nicht mehr das gute, alte Frankreich.Das gute, alte Frankreich ist tatsächlich nicht mehr. Die von außen bisweilen lustvoll durchdeklinierten Indizien des Niedergangs eines einst stolzen Landes sind Legende – vom Time-Artikel 2007, der den Tod der französischen Kultur diagnostizierte, über die Kritik an Subventionen und noch mehr Sozialstaat als hierzulande in Zeiten von allgegenwärtiger Flexibilisierung bis zum jämmerlichen Auftritt der Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Südafrika. Auskünfte über die Niedergeschlagenheit der Grande Nation sind in Zeiten eines die Berlusconisierung der Medienwirtschaft vorantreibenden „Tele-Präsidenten“ Sarkozy fast zu einfach zu haben. Denn genauso billig und modisch wie die Euphorie über gelungene Integration in dem Moment ist, in dem die Vielfalt der französischen Gesellschaft erstmals Ausdruck im Nationalteam fand (WM-Titel 1998), die angesichts des Desasters zwölf Jahre später in das Gegenteil umschlägt, wenn der Streit im Nationalteam zum Beweis genommen wird, dass Jugendliche aus den armen Vororten von Paris schlichtweg nicht zu integrieren seien – genauso ungerecht ist es, die gegenwärtige Kunstproduktion des Landes an einem, gerade aus amerikanischer Sicht, völlig verklärten Paris-Bild und großen Namen (Sartre, Godard, Robbe-Grillet) zu messen.Alle lieben Monsieur MathieuTatsächlich ist der Rekurs auf nationale und kommerziell sichere Stoffe im Kino ein Trend, der, wie einst die Nouvelle Vague, nicht auf Frankreich beschränkt bleibt. Die Phase der ästhetischen Restauration nach den offeneren, experimentierfreudigeren siebziger Jahren hat auch andere Kinematografien ereilt; bemerkenswerte französische Filme wiederum hat es durchaus gegeben in den letzten Jahren – Laurent Cantets semidokumentarischer Film Die Klasse (2008), Jacques Audiards gefängnisökonomisches Drama Ein Prophet (2009) und selbst Gaspar Noés angreifbarer Drogenfreudianismus Enter the Void (2010).Interessant an der Renationalisierung des Kinos ist aber deren spezifische Ausformung in den einzelnen Ländern. Diesbezüglich bietet das französische Kino derzeit reichlich Anschauungsmaterial: Vor kurzem sind Jean-Pierre Jeunets Film Micmacs und Laurent Tirards Der kleine Nick gestartet, auf Mammuth in dieser Woche folgt Mitte Oktober Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte von Joann Sfar. Dass es sich dabei um verschiedene Genres handelt (Komödie, Literaturverfilmung, Sozialtragikomödie, Biopic) mit unterschiedlichen ästhetische Herangehensweisen, die Filme sich aber dennoch aus einem Blickwinkel, eben dem „nationalen“, betrachten lassen, bestätigt die These der Filmwissenschaftler Pierre Beylot und Raphaëlle Moine, die gerade die Heterogenität solcher Produktionen unter dem Begriff der fictions patrimoniales gefasst haben.Schaut man durch diese Filme auf das, was Frankreich heute von sich selbst behauptet, so findet man: trübe Regression in ein Früher, in dem die Welt, nostalgisch verbrämt, irgendwie noch in Ordnung war. In Der kleine Nick etwa erscheinen die Verhältnisse der späten fünfziger, frühen sechziger Jahre in von Sepia mild getöntem Licht. Der ewig kneifende und unzufriedene Angestellte (Nicks Vater) taugt plötzlich zum role model – schließlich hat er noch eine Arbeit, über die er sich beklagen kann. Die weibliche Schusseligkeit (Nicks Mutter) fügt sich ins Glied der familiären Ordnung – die nicht überschattet wird von Begriffen wie Scheidung oder Patchwork. Und die Strenge der Schule (in der Gérard Jugnot, der rührige Chorleiter aus Die Kinder des Mathieu von 2004, einem anderen, erfolgreichen Sedativum des französischen Kinos, einen Cameo-Auftritt hat) wird akzeptabel, wo sie doch lediglich Fantasie und Abenteuerlust der Zöglinge zu befördern scheint.Laetitia Casta als Brigitte BardotDie Ordnung der Gesellschaft wird auch in Micmacs nicht in Frage gestellt, gleichwohl der Film behauptet, in der Gegenwart zu spielen (das Paris, das er zeigt, sieht dennoch aus wie vor mehr als 60 Jahren): Ein Häuflein von Randgestalten, die in einer Höhle leben, kombiniert die jeweiligen, mit allerlei Schnickschnack auf Originialität getrimmten Fähigkeiten der Einzelnen so, dass am Ende den bösen Waffenindustriellen mittels modernster Technik (Youtube!) ordentlich heimgeleuchtet wird – der kleine Mann ganz groß, sonst aber vor allem: kleiner Mann. Gainsbourg ist in dieser Auswahl zweifellos der gelungenste Film, weil er die realismushörige Chronologie mit Alpträumen des Protagonisten mischt. Zuerst geht es aber auch hier um die Beschwörung von nationaler Größe, für die sich heute nicht so leicht prominente Gesichter finden ließen – bezeichnenderweise wird Laetitia Casta, die 1999 als neue „Marianne“ posierte, auf die junge Brigitte Bardot, ein anderes Nationalsymbol, geschminkt.Diese prominenten Besetzungen sind ein Charakteristikum der fictions patrimoniales, wie Beylot/Moine schreiben. Der große Name macht selbst aus dem kleinen Film, der Mammuth im Grunde ist, eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung. In Schultze gets the Blues durfte der eher aus dem Fernsehen bekannte Horst Krause in seinem Rollenfach brillieren. Bei Gérard Depardieu, der sich in seinen Rentenbelegen verzettelt, motiviert das Gefälle zwischen Leinwand-Image und filmischer Realität eher die Frage, ob diese Besetzung die Trostlosigkeit des französischen Gegenwartskinos nicht noch bestärkt.