Paul Murrays Roman Skippy stirbt mutet auf den ersten Blick an wie ein etwas zu ausführlich geratener Entwicklungsroman. Auf fast 800 Seiten erzählt der 1975 geborene Murray die Geschichte einer Gruppe 14jähriger gutbürgerlicher Internatsschüler in einem Dubliner Vorort. Wer nun eine heile Welt erwartet, wird aber recht drastisch eines besseren belehrt. Es gibt in Skippy stirbt zwar romantische Jugendliebe per SMS und schrullige Posen halbstarker Jungs. Aber auch Drogen, Gewalt, sexueller Missbrauch und Internetpornos bestimmen den Alltag der pubertierenden Jugendlichen.
Da betatschen Priester und Sportlehrer ihre Schützlinge und Jugendliche werden von ihren Mitschülern solange in die Kloschüssel getaucht bis sie japsend das Bewusstsein verlieren. Tra
sein verlieren. Tragischer Höhepunkt ist der Titel gebende Tod eines Schülers namens Skippy. Fast möchte man meinen, Skippy stirbt wäre bewusst an aktuellen Medienthemen entlang geschrieben. Aber der Roman wirkt keineswegs konstruiert. Paul Murrays schonungsloser Blick auf die zeitgenössische Jugend besticht durch seine einfache, direkte Art. Als wäre der Autor selbst noch ein Heranwachsender, der in einer äußerst lebendigen und auch ironischen Prosa beschreibt, wie seinesgleichen tickt. Dabei kommt eine eigenartige Mischung heraus, die sowohl popkulturelles Epos ist wie auch Aufarbeitung eines so sensiblen Themas wie Missbrauch im Internat. Dieser Hybridstatus ist ebenso Stärke wie Schwäche des Buches. Murray klagt nicht an, die Schwere des Themas droht aber gleichzeitig im schrillen Pop-Diskurs unterzugehen.Das breit gefächerte Personaltableau des Buches mit gut drei Dutzend Akteuren umfasst neben den Schülern auch die Erwachsenenwelt. Da gibt es den neoliberalen autoritären Direktor, der sich gerade an die Spitze der traditionsbewussten Schule geputscht hat, prügelnde Drogendealer aus der Unterschicht, gutmütige sowie sadistische Lehrer und krankhaft ehrgeizige Eltern. Inmitten dieses Gesellschaftsporträts stehen die Zimmernachbarn Daniel Juster, genannt Skippy, und der übergewichtige hochbegabte Ruprecht van Doren.Skippy, erfolgreich in der Schwimmmannschaft, verliebt sich in die wunderschöne Lori, die bald wegen ihrer Magersucht in einer Klinik landet. Ruprecht will mittels Stringtheorie ein Portal in ein anderes Universum öffnen. Die vierte tragische Figur in dieser Anordnung ist Howard Fallon, ehemaliger Schüler und mittlerweile Geschichtslehrer mit einer Obsession für den ersten Weltkrieg und Robert Graves. Er verliebt sich wie die Mehrzahl der Schüler in die Geographie-Lehrerin, woraufhin ihn seine Frau verlässt. Schließlich wird er auch noch zum Mitwisser eines Missbrauchskandals, den er zu vertuschen hilft.Oralverkehr mit dem WidersacherPaul Murray erzählt die Ereignisse an dem katholischen Elite-Internat über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg rund um den plötzlichen Tod von Skippy. Der nette Schüler wird im Lauf der Zeit zu einem Problemfall und zieht das Misstrauen der Lehrkräfte auf sich. Ob sein Tod durch einen Drogencocktail ein Unfall oder Selbstmord ist, bleibt ebenso unklar wie mögliche Motive. Liegt es an einem mit dem Handy aufgenommenen Film, auf dem Lori zu sehen ist, wie sie mit Skippys Widersacher Carl Oralverkehr hat? Oder weil der Schwimmtrainer sich sexuell an seinem Schützling vergangen hat? Und dabei ist nicht einmal klar, ob er der einzige Lehrer war, der den 14-Jährigen missbraucht hat.Skippy stirbt beschreibt den Kollaps eines sozialen Systems. Im Vordergrund dieses Prozesses steht die Sexualisierung des Schüleralltags durch das Internet und neue Kommunikationstechnologien. Die scheinbar aufgeklärten und doch so naiven Jugendlichen werden plötzlich mit einer ganz neuen Verletzlichkeit konfrontiert. Gleichzeitig fällt es den Autoritäten schwerer, Missbrauchsfälle zu vertuschen. Das Internat als Ordnungsinstitution scheitert so auf ganzer Linie. Am Ende geht sogar das Gebäude in Flammen auf. Auf den fast 800 Seiten beschreibt Murray detailliert diesen Kollaps einer in die Jahre gekommenen Institution. Personeller Dreh- und Angelpunkt für das Versagen der gültigen Ordnung ist der junge Lehrer Howard Fallon, der mit seiner impulsiven und emotionalen Art zwischen den Jugendlichen und den Erwachsenen steht. Damit arbeitet Skippy stirbt auch eines der zentralen Motive der Popliteratur auf: das Nicht-erwachsen-werden-können. Dieses im psychologischen Fachjargon mittlerweile als Neotenie bezeichnete Phänomen gilt unter anderem als Folge einer Berufswelt, die ständige Flexibilität und fortlaufende Weiterbildung einfordert. Bei Paul Murray führt diese Verweigerung des Erwachsenseins aber zu einer Nicht-Integrierbarkeit in ein Ordnungssystem, das eigentlich antritt, jugendliche Eigenheiten zurechtzubiegen. Genau dieser Autorität widersetzen sich die anarchischen Heranwachsenden und Ewig-Junggebliebenen erfolgreich. Auch wenn einige dabei auf der Strecke bleiben.