Die Hühner singen. Ein Igel hustet. Das Lamm springt aufs Sofa. Ein Ganter schnappt zu. Es herrscht: „Landleben“. Je mehr „die Natur“ aus der Alltagserfahrung tatsächlich verschwindet, desto mehr wird sie geschätzt. Hinzu kommen raue ökonomische Zeiten, Flexibilitäts- und Mobilitätszwänge, die Wünsche nach einem naturverbundenen Flecken Erde aufblühen lassen. Die Medien haben auf diese Sehnsüchte reagiert. Fernsehsendungen und erfolgreiche Zeitschriften wie Landlust entwerfen Bilder von einer vergleichsweise heilen Welt „da draußen“. Nun folgen die Sachbücher, der Ton darin ist ein etwas anderer.
1. Der gute Mensch von L.
Die Autorin und Journalistin Hilal Sezgin, Jahrgang 1970, mietete vor einige
ang 1970, mietete vor einigen Jahren ein Haus bei einem Ökobauern in der Lündeburger Heide; in Landleben erzählt sie von den neuen Erfahrungen mit Nachbarn, Tieren, Pflanzen, Freunden und vor allem mit sich selbst. Geschildert wird der Versuch, konsequenter zu leben; aus der Vegetarierin wird eine Veganerin. Warum soll ein Nutztier überhaupt nützlich sein? Ein erfülltes Hühnerleben brauche keine Bestimmung für menschliche Zwecke.Sezgin hat sich schon früher mit Tierethik befasst, mit der Frage also, wo die Verantwortung gegenüber Tieren beginnt. Natürlich auch in der unmittelbaren Nähe. Und so päppelt sie Lämmer, heilt die Klauenentzündungen der Schafe, stärkt Hühner mit Aufbauspritzen, und ihre anfängliche Idylle gleicht allmählich einem „Slum“. Mal stolz, mal entwaffnend selbstironisch schildert Sezgin ihre Beschäftigungen. Ein erkranktes Huhn wird in der Dusche gepflegt, ein Lamm zur eigenen Sicherheit (Straßenverkehr) an der Leine geführt – Daktari in Norddeutschland, schreibt Sezgin und fragt sich selbst, wohin es führt, ihre Astrid-Lindgren-Bullerbü-Träume auszuleben.Dabei appelliert sie durchaus originell an das Gewissen ihrer vermutlich ganz gut gestellten Leser: Den wenigsten Menschen fiele es ein, im Restaurant den Regenschirm eines anderen Gastes zu stehlen, aber den Tieren nehme man alles, sogar ihr Leben. Und doch fragt man sich, ob der Verbraucher „die Zustände“ allein verantwortet. Man denkt an Brecht, an sein Stück Der gute Mensch von Sezuan, das die Dialektik eines guten Wollens in einer schlechten Welt thematisiert: „Soll es ein anderer Mensch sein? Oder eine andere Welt?“Hilal Sezgün scheint allerdings lieber Astrid Lindgren zu paraphrasieren: „Wenn wir wollen, so hoffe ich, könnte eine neue Zeit kommen, in der die Erde dem Menschen und seinen einstigen ‚Nutztieren‘ wieder eine wunderbare Heimat ist.“ Dieses „wir“ widerspricht jedem journalistischen Einmaleins; es verwischt die Distanz zwischen Gesetzgeber, Wirtschaft und Gesellschaft. Harsch gesagt, erscheinen die politischen und ökonomischen Interessen und Probleme privatisiert und damit harmonisiert: „Zu teuer – der ökonomische Imperativ gilt bei meinem kleinen Gnadenhof nicht.“ Sezgins Radikalität ist die einer geläuterten Konsumentin. Sie erklärt, dass ein „Zurück zur Natur“ unmöglich ist, dass es nur vorwärts gehe. Das dürfte die Lektüre vielen Leser entscheidend erleichtern.2. Peter PanMartin Reichert, Jahrgang 73, arbeitet in der Woche als taz-Journalist in Berlin, an den Wochenenden lebt er bei seinem Mann in einem Dorf im Brandenburgischen. Sein launig geschriebenes Buch heißt nicht Landleben, sondern Landlust, und führt einen jungenhaften Hedonisten vor, der draußen in der Pampa von der Großstadt träumt, wo er endlich wieder mit seinen Freunden spielen kann. Auch in Berlin gibt es ja Natur, etwa in Form von versteckten Hanf-Plantagen.Und das Land? Der verblüffte Leser erfährt, dass Gülle stinkt und von frischer Luft also oft nicht die Rede sein kann. Reichert begegnen Spinnen, und er muss nicht erst ins Dschungelcamp reisen, um Maden zu sehen – die gibt es doch in jeder Zwetschge! Der Herbst bringt den Laubsauger und der Winter das Juchzen oder Fluchen über den Schnee. „Nirgendwo ist die Entfremdung vom Lande größer als auf dem Land selbst“, lautet Reicherts These. Da ist was dran. Ökologisch einwandfreie Lebensmittel kauft man oft bequemer in den Städten als in den von Aldi-Märkten überzogenen Dörfern. „Gesundes Leben“ in Form von Wellness-Anlagen ist ein Versprechen für Touristen, die Dorfbewohner leiden unter Ärztemangel. Viele Felder sind in Plastikfolie verpackt, alte Dorfkaten beherbergen Galerien, Bauernhöfe werden zu „Kulturfabriken“ umgebaut, und Wildtiere wandern in die Städte aus. Reichert witzelt über Einheimische, die bevorzugt in Trainingsanzügen herumlaufen, und über die gutbürgerlichen Zugezogenen, die mit Geräten von Manufaktum an ihrer Kräuterspirale herumwerkeln. Alles richtig. Aber vermutlich muss man als Leser in Stadtteilen wie Mümmelmannsberg wohnen und das Landleben vor allem aus der Serie Bauer sucht Frau kennen, um bei diesem Selbstversuch wirklich mit aufgerissenen Augen mitzugehen.3. Der DesillusionierteAxel Brüggemann, Jahrgang 71, auch er Journalist, lebt mittlerweile auf einem Dorf bei Bremen. In seinem Buch Landfrust stellt er fest: Die Mythen über das dörfliche Leben finden sich noch im Fernseher und in diversen Internetspielen – während die Provinz stirbt. Es herrschen mangelnde medizinische und soziale Versorgung der Bevölkerung, aussterbende Regionalsprachen, schlechte schulische Bildung, schlechte Infrastruktur überhaupt. Pendlerdörfer, deren Kirchen und Kneipen schließen, kommerzialisierte Dorffeste, berufliche Perspektivlosigkeit, Familienzerfall. Schwindende dörfliche Moral. Kriminalität, ob in Form von Alkoholexzessen, Sexualdelikten, Vandalismus, Grabraub oder Mord und Totschlag.Brüggemann weiß, dass die Klage über den Niedergang des Landlebens die alte Begleitmusik der Industrialisierung ist. Das hält ihn nicht davon ab, seinerseits manchmal nostalgisch zu werden: Früher (wann genau auch immer) war der Dorfklatsch so etwas wie Kitt für die Gemeinden, heute dient er der Ausgrenzung. Früher hat man sich im Dorf geholfen, heute herrscht Neid, wenn einer staatliche Hilfe bekommt. Früher dienten Schlägereien dazu, Reibereien aufzulösen, heute gehe es nur darum, aus der großen Tristesse auszubrechen.Das verkommene, böse Dorf, das bemitleidenswerte, arme Dorf? Brüggemann, der wie Sezgin trotz allem gern in der Provinz lebt, appelliert an die Verantwortung der Landbewohner. Dörfer sollen nicht zu Krisenherden werden, sondern zu „verwirklichten Lebensträumen, an deren Gelingen wir täglich arbeiten müssen.“ Amen. Das lässt sich auch für jede Großstadt, für die ganze Welt mitsamt Sezgins glücklichen Hühnern und Schafen unterschreiben.Neu ist es ja nicht ganz, wie die drei Autoren in ihrem geschärften Bewusstsein vom gefährdeten Zustand des Planeten Erde aufs Land geraten, wo sie Lämmer aufziehen, sich über den Rasenmäherlärm ärgern oder amüsieren und auf „verwirklichte Lebensträume“ kommen. Immer wieder haben Künstler und Intellektuelle der Großstadt den Rücken gekehrt, um auf dem Dorf anzukommen – erinnert sei an Wilhelm Buschs Helden Balduin Bählamm. Über 150 Jahre später wirkt „das“ Land in den Veröffentlichungen von Reichert und Brüggemann wie eine bedrohliche und bedrohte, auch etwas belächelte, auf alle Fälle „fremde“, exotische Gegend.Die Autoren reden eben mehr „über“ das Land als gleichsam aus ihm heraus. Das ist ein legitimes Verfahren, hat seine Vorteile – aber man bedauert, dass die Stimmen alteingesessener Chronisten fehlen, die etwa der Niederländer Gerd Mak in seinem 1999 erschienenen Buch Wie Gott verschwand aus Jorwed. Der Untergang des Dorfes in Europa zu Rate gezogen hat. Hier sind es eben Medienschaffende mit spielerischen, aufklärerischen oder missionarischen Intentionen, die von einem Selbstexperiment berichten. Medienschaffende, das ist dann auch ein Synonym für die Antithese zum Landleben: Als die Rezensentin, die ihrerseits 16 Jahre gern in der Provinz wohnte, wieder zurück in die Großstadt zog, sagte ein Maurer aus dem Dorf über sie und über ihresgleichen: „Eben. Wenn es denen über ist, können die wieder weggehen.“