Huldar Breiðfjörð hängt eher im Stuhl, als dass er sitzt, die Augen auf Halbmast. Er ist ein wenig heiser, sein Gesicht so fahl wie der Winterhimmel von Reykjavík draußen vor dem Fenster. Es ist spät geworden, gegen sechs Uhr morgens ist er erst ins Bett gekommen. Er war feiern. Er räuspert sich, „ich mache das nur noch alle paar Monate“, mehr schaffe er nicht mehr, er sei zu alt. „Isländer haben gerne Spaß am Wochenende. Sie betrinken sich und werden verrückt. So war das schon immer und wird auch immer so sein“.
Nonchalance und neongrüne Stricksocken
Vor 13 Jahren war er jedes Wochenende feiern. Und dann entschloss er sich, den „Ring“ zu fahren, einmal im Kreis um Island herum. Huldar Breiðf
Huldar Breiðfjörð machte einen Roman daraus, Liebe Isländer heißt er in der deutschen Übersetzung, die nun erschienen ist. Es war damals für den wichtigsten isländischen Literaturpreis nominiert. Wieviele Exemplare er seit 1998 verkauft hat? Er zuckt mit den Achseln, sein Verleger würde es ihm sicher sagen, sagt er, „wenn ich ihn fragen würde“. Diese Nonchalance trägt er wie seinen mit Teddybärfell gefütterten Parka, die beuligen Khakihosen, seine neongrünen Stricksocken und das unrasierte Gesicht.„Ich hatte damals die Schnauze voll von dieser Art Leben. Es ist ein dummes Leben“, sagt Huldar. „Ich fühlte mich rastlos. Dieses Gefühl hat hier jeder früher oder später. Wir sitzen auf einer verdammten Insel fest, es ist eng hier“. Sonst war er dann immer abgehauen, nach Europa, Amerika; der Impuls kommt bis heute, er war in China, im Herbst kam er von einem mehrmonatigen Trip aus Mittelamerika zurück. Damals aber, mit 26, direkt nach seinem Literaturstudium, saß er da und fragte sich, was er mit seinem Leben anfangen solle. Er beschloss, ausnahmsweise nicht zu fliehen, sondern zu bleiben. Und Auto zu fahren. Im tiefen Winter. Vielleicht, so die vage Idee, könnte er darüber schreiben.Das Buch, das damals entstand, lässt Fiktion und Realität bis zur Ununterscheidbarkeit ineinanderfließen. Liebe Isländer ist Islands On the Road. Ein Initiationsroman, der dem jungen Ich-Erzähler beim langsamen Sich-Selbst-Erkennen zuschaut. Und in dem er zugleich das Wesen seiner Heimat festzuhalten sucht. Und jetzt sitzt der Autor, mittlerweile 39, also in einem Hotelzimmer, stürzt durstig ein, zwei, drei Gläser klirrend kaltes Wasser aus dem Hahn hinunter und muss über etwas reden, das 13 Jahre her ist. Weil sich endlich ein deutscher Verlag gefunden hat, der seinen Debütroman übersetzt hat, nun, da Island das Gastland der nächsten Frankfurter Buchmesse sein wird. Den ganzen vergangenen Tag fuhr Breiðfjörð deswegen zwei Handvoll deutscher Journalistinnen durch die Gegend, zeigte ihnen abends noch jene Art von Leben, von der er damals die Schnauze voll hatte.„Alle meine Freunde hatten die Köpfe geschüttelt, als ich ihnen von meinem Vorhaben erzählte“, konstatiert der Erzähler in Liebe Isländer: Es gebe nichts Langweiligeres, als im Winter zwei Monate den Ring zu fahren. Der brachiale Wind, das Glatteis, der Schnee. Und die Scheiß-Kälte. Er kämpft damit, endlich einmal etwas zu Ende durchzuziehen: „Obwohl Du Dir nun eingestanden hast, dass Du auch nur eine von vielen Kaffirbar-Ratten bist, die das Tageslicht fürchten, ist das kein Grund, umzukehren.“ Huldar Breiðfjörð kämpfte auch: „An den ersten Tagen bin ich fast ausgeflippt. Nichts passierte! Ich dachte: Shit, worüber soll ich bloß schreiben?“. Und dann realisierte er: Daraus kann er etwas machen, hier, in diesem Land, in dem grundsätzlich nichts passiert. „In meinem Kopf war eine mehrere hundert Kilometer lange Schneepiste“, heißt es im Buch.Man kann es sich vorstellen, jetzt, im Spätwinter 2011. Am Tag bevor Huldar Breiðfjörð etwas groggy Interviews geben muss, geht es über Land, immer geradeaus nach Norden. Eine ascheschwarze Straße, rechts und links ein Teppich aus rauchfarbenen Lavakrümeln, längst von Moos bedeckt. Der Wind schüttelt das Auto, isländische Stille ist verdammt laut. Huldar lenkt mit einer Hand, fährt auch mal mitten auf der Straße. Alle halbe Stunde kommt mal jemand entgegen. „Autos müssen hier einmal im Jahr zur Inspektion“, erzählt er, „der Sicherheit wegen“. Was, wenn man irgendwo liegenbleibt, es ist nicht auszudenken. Die Dämmerung ist schleichend; bis es wirklich Nacht ist, dauert es Stunden. Draußen Regen, der nicht Regen ist, eher eine allgemeine Feuchtigkeit.Und dann und wann ein Tankstellenkiosk, wettergegerbt. Hier wird der Dorfklatsch ausgetauscht, die Jugendlichen kaufen Süßkram, hängen rum. Es gibt hier, was wesentlich ist. Trockenfisch im Eisfach, 20-Liter-Benzinkanister, vier Kühlschränke mit Frostschutzmittel und eine ganze Wand voller Handschuhe, mit Noppen und ohne, aus Gummi, Latex oder Baumwolle, 40 verschiedene Sorten. Die Natur, sie ist hier übermächtig präsent, es ist eine derart permanente Auseinandersetzung, dass man sie nicht einmal mehr bemerkt. Es gibt auf Island, heißt es, 300.000 Schafe, so viele wie Einwohner. Und so heißen die Menschen hier nicht nach Handwerksberufen wie Müller oder Schuster, sie binden sich auch mit ihren Namen an die Natur. Huldars Vater nannte sich um, nach dem „Breiten Fjord“ im Westen Islands, Breiðfjörð; es klingt wie ein Windstoß, „Brreithfjörth“. Und Halldór Laxness, 1955 zum bisher einzigen Literaturnobelpreisträger des Landes gekürt, wählte als Nachnamen den Hof seiner Eltern, Laxness; ein Ort, an dem es, nun ja, viel Lachs gibt.Der Kontrast zur nächtlichen Hauptstadt könnte nicht größer sein. Samstagabend in Reykjavik weggehen, das heißt 1998 wie heute: Man tanzt, bis der Boden bebt. Buchstäblich. Alle sind da. Dort der eine Bestsellerautor, da die andere Bestsellerautorin, dort der blinde Philosoph, der inzwischen Parlamentsabgeordneter ist. Man trägt Fellmütze oder, die Frauen, auch mal fast nichts. Irgendwann kommt garantiert ein Lied, das der Freund einer Freundin von einem hier geschrieben hat, ein Hit. Und dann ist da noch jene Künstlerin, sie vertritt Island auf Kunstfestivals im Ausland, sie ist betrunken, irgendwie wütend, schleudert dem einen ihre Hacken ins Gesicht, dem anderen ihre Krallen. Keiner regt sich auf, man redet beruhigend auf sie ein. Sie sind alle befreundet, man läuft sich hier sowieso über den Weg.Dass sich heuer in Deutschland alle auf isländische Literatur stürzen werden, findet man aufregend; einige der Schriftsteller äußern die Sorge, die Hochstapelei fliege auf, die isländische Literatur entpuppe sich nun als nicht so brillant, wie alle Isländer überzeugt sind. Viele Bücher erscheinen zum ersten Mal auf deutsch, die paar Übersetzer, die es gibt, ackern seit anderthalb Jahren ununterbrochen.Das Buch zur KriseHuldar Breiðfjörðs beiden anderen Romane, auch sie basieren auf Reisen, sind noch nicht übersetzt. Irgendwann dazwischen hat er drei Jahre Film in New York studiert, Dokumentarfilm: Fiktion und Realität verschwimmen bei ihm zugunsten der Realität. Dass Breiðfjörð überzeugend erzählt, dass er schon einen Geist gesehen hat (in Island nicht ungewöhnlich) passt dazu. Sein letztes Buch, Der Färöische Tanz, erschien 2009. „Vielleicht das beste Buch über Islands Wirtschaftskrise“, attestierte Freund und Kollege Hallgrímur Helgason.„Es war, als ob auf einmal keiner mehr wusste, was unser Land war“, erzählt Breiðfjörð. „Was versuchen wir hier gerade, wollen wir wie Skandinavien sein oder orientieren wir uns nach den USA? Darüber hatten wir jahrzehntelang nicht nachgedacht. Und das machen wir gerade.“ Die Isländer gingen auf die Straße, demonstrierten die Regierung aus dem Amt, wählten einen Stand-up-Comedian zum Bürgermeister der Hauptstadt. Und Breiðfjörð fuhr zum zweiten Mal den Ring. Vor einem Jahr, begleitet von einem polnischen Photographen. Fünf solcher Duos waren unterwegs, es ist ein Fotobuchprojekt daraus entstanden: IS (not). Die Frage nach der isländischen Identität brach erneut bei ihm auf: „Vielleicht wissen wir Isländer nicht, wer wir sind“, schreibt er in dem Buch. An einem Tag hielt er den Regenschirm über den Photographen, während der Bilder schoss: „Es ist das Bild einer Straße, von Wildnis, Nebel und Regen. Es ist das Bild vom Nichts.“Draußen riecht es dezent nach feuchtem Fisch, die schwarzen rabenartigen Vögel stoßen rollende Laute aus, die man noch nie gehört hat. „Der ‚Ring‘ fühlt sich an wie die Unendlichkeit“, sagt Huldar Breiðfjörd, der Schriftsteller, Journalist, Dokumentarfilmer, Drehbuchautor. Wenn man ihn nach seinem Beruf fragt, sagt er: „Ich würde wahrscheinlich ein bisschen zögern, aber dann würde ich irgendwann sagen, ich bin Schriftsteller.“ Und fügt hinzu: „Ich habe unterwegs realisiert, dass es gut in Island ist, keine finale Antwort zu haben.“