Melancholie in Atomograd

Ausstellung Die Fotografen Robert Polidori und Andrej Krementschouk zeigen zum 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl die Stadt Prypjat heute und damals

„Prypjat ist die einzige Stadt der Welt, deren Alter so leicht zu berechnen ist: 1970 (Gründung) bis 1986 (Untergang)“, schreibt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch in seinem Essay Vom Aufstieg und Fall der Stadt Prypjat, den er anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Straße der Enthusiasten zum 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl in der Heinrich-Böll-Stiftung vorliest. Prypjat wurde als gigantische Siedlung für die Arbeiter des Atomkraftwerks mit 13414 Wohneinheiten am Reißbrett entworfen. Heute ist die Stadt, die ursprünglich Atomograd heißen sollte, ein mythischer Ort, der viele Assoziationen auslöst, die vor allem aus ikonischen Bildern bestehen, die inzwischen Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden sind. Die Fotografien, welche die Ausstellung zeigt, sind zwei Versuche, sich der Katastrophenregion aus einem anderen Blickwinkel zu nähern.

Die Werke des kanadischen Fotografen Robert Polidori eröffnen die Ausstellung. Polidori, dessen Œuvre sich vornehmlich mit Architektur auseinandersetzt, arbeitete sich an den verlassenen Interieurs Prypjats ab. Diese sind in den Augen Walter Mossmanns, Kurator der Ausstellung, eine unvergleichliche Kunstinstallation. Tatsächlich wirken die großformatigen Werke Polidoris wie fein säuberlich drapierte Installationen. Sie erinnern unweigerlich an die Arbeit Jeff Walls. Sein The Destroyed Room gehört zum Kanon der inszenierten Fotografie. Ein Werk Polidoris zeigt einen verlassenen Unterrichtsraum. Stühle liegen im Raum verstreut. Tische sind umgestoßen. Auf der Tafel steht mit Kreide geschrieben „Keine Rückkehr. Lebe wohl Prypjat. 28.4.1986.“

Nach dem GAU verließen die Einwohner die Stadt fluchtartig und konnten nur wenig Handgepäck mit sich nehmen. In der Folgezeit versuchte die ukrainische Regierung, verbliebene Bewohner der Sperrzone systematisch zu vertreiben, unter anderem stellte man ihnen den Strom ab. Doch bis heute wohnen ein paar Hundert Menschen in der Region, viele von ihnen, meist ältere Menschen, sind zurückgekehrt, um ihren Lebensabend in Prypjat zu verbringen. Ihr Alltag ist das Sujet der Arbeit Andrej Krementschouks, Fotograf und studierter Ethnologe, der mit seinem rastlos mäandernden Werk tief in das Leben der Einsiedler vordringt.

Die Katastrophe, das Leid oder eine drohende Strahlenkrankheit sucht man im Werk Krementschouks vergeblich, verweigert sich seine Arbeit doch dem vielerorts gezeichneten Bild einer post-apokalyptischen Gegend ohne Zukunft.

Sowohl Polidoris als auch Krement­schouks Fotografien sind Meditationen über den Zustand einer Zone, in der Leben nur schwer möglich scheint. Polidoris Aufnahmen zerstörter Interieurs enthalten eine große Melancholie. Seit Jahrzehnten unbewegte Objekte, die nicht einmal Plünderer mitnehmen wollten, sind stumme Zeugen des plötzlichen Endes einer Ära.

Krementschouk zeigt eine andere Form der Melancholie. Die Menschen in seinen Fotografien haben sich ihre Heimat erkämpft. Sie leben fernab jeglicher Industrie, denn die Industrie hat an dieser Region kein Interesse mehr. Die Arbeiten Krementschouks und Polidoris sind ein entschleunigtes Gegenkonstrukt zu den hyperaggressiven Bildern aus der Präfektur Fukushima.

Die Ausstellung Straße der Enthusiasten ist als Nächstes in den Städten Brüssel, Warschau, Kiew, Gartow und Freiburg zu sehen. Der Freitag ist Medienpartner der Ausstellung

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Geschrieben von

Nico Schmidt

Freier Journalist

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