Unter freiem Himmel

Ausstellung Der Starfotograf zu Gast bei armen Leuten? Martin Parr hat im Pariser Migrantenviertel "La Goutte d'Or" fotografiert - und Außergewöhnliches entdeckt

Der englische Magnum-Fotograf Martin Parr hat sich für ein paar Wochen im Pariser Quartier „La Goutte d’Or“ zum Fotografieren niedergelassen. Das Viertel im 18. Arrondissement ist in vieler Hinsicht aufregend. Hier leben vor allem afrikanische Einwanderer. Viele von ihnen sind Muslime. Gemeinhin wird das Quartier von den Medien als eine Art Getto und Zentrum von Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution wahrgenommen, aber das sind wohlfeile Klischees.

Die Zuwanderer führen zum größten Teil ein normales Leben unter schwierigen ökonomischen Bedingungen und tragen ihre exotischen Kleider ebenso selbstverständlich, wie sie unter sich ihre Sprachen sprechen. Sie nennen das Quartier „unser Dorf“. Es ist ein buntes Volk, das hier lebt. Auffällig viele Kinder sind darunter.

Parrs etwa vier Dutzend Farbfotos sind jedoch alles andere als folkloristisch oder voyeuristisch, sondern tragen den Stempel des Dokumentaristen, der nicht auf oberflächliche Effekte schielt. Dank der Mithilfe von „Locals“ öffneten sich Parr auch Türen, die sonst verschlossen sind.

Einige Fotos zeigen Frauen beim Gebet in der Moschee, und deren Gesichter sind nicht verschleiert. Der Islam prägt das Viertel. Die zwei Moscheen – eher Gebetsräume – sind so klein, dass beim Freitagsgebet der Platz nicht ausreicht. Die Männer legen dann ihre Gebetsteppiche einfach auf die gesperrte Straße und beten zu Hunderten unter freiem Himmel – während die benachbarte Kirche Saint-Bernard leer steht. Die Betenden „besetzen“ nur die Straßen, nicht die Bürgersteige.

Auch ein großer Teil des regen Geschäfts- und Marktlebens spielt sich unter freiem Himmel ab. Neben Bergen von exotischem Gemüse wird an den Ständen der Halal-Metzger Fleisch angeboten, das nie in französischen Metzgereien zu sehen ist. Die afrikanische Küche verarbeitet viel Fleisch, aber nicht die teuren Filetstücke, sondern Innereien, Beinfleisch und andere Teile, die sonst allenfalls verwurstet werden.

Ein Hund, dieser Portier

Im Quartier leben jedoch nicht nur Muslime, sondern auch Hindus, Juden und Christen. Ein Metzger ließ sich in seinem kärglich ausgestatteten Laden porträtieren, in dem es auch Schweinefleisch zu kaufen gibt. Hinter ihm an der Wand steht ein mit Weinflaschen bestücktes Regal. Im Entree eines bescheidenen Hotels hängen die französische Flagge und die eines afrikanischen Staates. Statt eines Portiers hütet ein zähnefletschender Hund die Schlüsselwand.

Neben Cafés, in denen nur alte Männer sitzen, gibt es viele Läden, in denen nicht Kleider, sondern bunte Stoffe verkauft werden, die von Frauen und Männern gleich gegenüber geschnitten und genäht werden. So gesehen, dokumentiert Parr die gegenwärtige Vergangenheit von einfachen Handwerksbetrieben und Restaurantküchen.

Die Fotos des Fotografen, der mit auch despektierlich zu verstehenden Fotos englischer Kleinbürger bekannt geworden ist, zeigen viele Facetten des Lebens und Überlebens von Einwanderern unter prekären Umständen. Martin Parr wirft einen empathischen Blick auf Menschen und Verhältnisse, Widersprüche und Spannungen – ohne Anbiederung, aber auch ohne Dramatisierung. Vielen Menschen steht die Härte ihres Lebens buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Eine beeindruckende Ausstellung.

Martin Parr The Goutte dOr! Institute des Cultures dIslam, Paris. Bis 2. Juli. Das Begleitheft kostet 4,50

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