Pop-Innovateurin In Manchester hat Björk ihr neues Projekt "Biophilia" vorgestellt. Neben selbstgebauten Instrumenten und Apps für's iPad, umfasst es auch verstörende Natur-Doku-Clips
Die ursprünglich von dem Wissenschaftler Edward O. Wilson formulierte Biophilie-Hypothese besagt, dass Menschen eine immanente Affinität zu der natürlichen Welt aufweisen – zu Pflanzen, Tieren oder selbst dem Wetter. Es ist aber nicht Biophilie, sondern gutes altmodisches Fantum, dass eine Gruppe Björk-Besessener sich veranlasst sieht, am Morgen bereits um zehn Uhr vor der Campfield Market Hall in Manchester Schlange zu stehen. Nicht, dass die Frau, wegen der sie gekommen sind, etwas Altmodisches an sich hätte. Biophilia ist das neue Projekt der Sängerin Björk. Es bedeutet wörtlich übersetzt „die Liebe zu lebenden Dingen“ und verspricht, die Grenzen hierbei so weit auszuloten, dass man ein Hubble-Teleskop braucht, um sie sehen
m sie sehen zu können.Eine Gruppe von Journalisten konnte sich bei einer Pressekonferenz im Museum of Science and Industry bereits einen ersten Eindruck verschaffen. Björk ist nicht da. Sie bereitet sich auf das Konzert am Abend vor – ihr erstes in Großbritannien seit drei Jahren, mit dem sie das Manchester International Festival eröffnen wird. An ihrer Stelle sind der Künstler und App-Entwickler Scott Snibbe, die Musikwissenschaftlerin Nikki Dibben und der Projekt-Koordinator James Merry da, um über die vielen Aspekte von Biophilia zu sprechen. Im September kommt Björks neues Album heraus, zu jedem der hierauf enthaltenen zehn Songs gibt es eine Application. Ein Lernprojekt soll Kindern etwas über Natur, Musik und Technologie vermitteln – einige Kinder aus Manchester werden es bereits in der kommenden Woche ausprobieren."Wie eine Einstiegsdroge"Am Abend wird Björk ein Konzert vor etwa 2.000 Leuten geben, zu denen Journalisten von New Scientific bis hin zur New York Times ebenso gehören wie die draußen wartenden Hardcore-Fans. Einer von ihnen heißt Nick, ist 20, kommt aus London und spielt klassische Violine. Er liebt Björk seit er 14 ist. „Ich machte mir nicht wirklich viel aus Popmusik, bis ich Medúlla hörte, sagt er und nennt damit Björks anspruchsvollstes Album. „Das war wie eine Einstiegsdroge für mich, vorher hörte ich nur Kunstmusik des 20. Jahrhunderts. Seitdem mag und höre ich Popmusik.“ Bei den meisten Musikfans nimmt die Entwicklung den umgekehrten Weg. Das spricht Bände über die Komplexität von Björks Arbeit. „Kein anderer Popstar wird von so vielen klassischen Musikern respektiert wie Björk“, fügt er hinzu.Im Museum führt Snibbe die Apps vor. Die App zur ersten Single Crystalline enthält ein Spiel, in dem man in einem Tunnel Kristalle sammeln kann. Durch diesen Prozess verändert man die Musik und kann sie individuell gestalten. Darüber hinaus enthält die App eine komprimierte Version des Notenmaterials und einen Essay von Dibben, der – in diesem Fall – erklärt, wie die Struktur von Kristallen mit der musikalischen Struktur des Liedes korrespondiert. Die App zu dem Song Cosmogony enthälteinen 3-D-Kosmos , der sich navigieren lässt. Jede der Applikationen wurde von einem andern Anwendungstechniker entwickelt, von denen viele miteinander in Konkurrenz stehen.„Für mich fühlt es sich an wie sich die Geburt der Oper oder die Geburt des Kinos angefühlt haben muss“, sagt Snibbe.Björk hingegen hatte keine derart hehren Ziele, als sie das Projekt entwickelte. „Mein Hauptziel besteht darin, mich nicht zu sehr zu langweilen“, schreibt sie in einer E-Mail (zwischen den Konzerten schont Björk ihre Stimme). „Wenn ich neugierig und aufgeregt bin, ist auch die Chance größer , dass sich dies auf die Zuhörer überträgt. Letzten Endes geht es bei einem Abenteuer mehr um das abenteuerliche Gefühl als um die Einzelheiten des Abenteuers.“Radikaler Wechsel der HörerfahrungNichtsdestotrotz ist der Wechsel von einer passiven hin zu einer aktiven Hörerfahrung radikal. „Die Apps sind überwiegend für Kopfhörer und die private Erfahrung gemacht“, sagt Björk. „Bei den Konzerten spielen wir lediglich unsere Versionen. Zuhause kann man dann völlig andere Versionen spielen.“ Merry gibt sich große Mühe klarzumachen, dass es Biophilia auch ganz einfach als CD oder Download geben wird, wenn jemand keine Lust hat, selbst aktiv zu werden. Außerdem können ohnehin nur diejenigen die Apps ausprobieren, die ein iPad oder ein iPhone besitzen. Bislang ist das Projekt noch zu teuer, um es auf andere mobile Geräte auszuweiten.Die Journalisten kriegen auch die neuen Instrumente zu sehen, die speziell für das Projekt entwickelt wurden. Eine Vorrichtung sieht aus wie eine riesige silberne Bügelmaschine mit zwei sehr großen Ohrtrompeten. Des Weiteren werden zwei gigantische Pendel vorgeführt, die beim Vorbeischwingen mit einem Plektrum Saiten anschlagen. Es gibt einen Tesla-Transformator, von der Decke hängen zwei Zinken, die lilafarbene Blitze versprühen – und mit diesen zusammen auch Klänge, einen Hybrid aus Celesta und einem Gamelan-Instrument. All diese fantastischen Geräte werden von einem iPad gesteuert. Über der Bühne befinden sich im Kreis angeordnete Bildschirme, auf denen die Apps für jeden neuen Song erscheinen. Bei Mutual Core verschieben sich tektonische Platten, bei Virus sind angreifende rosa Zellen zu sehen: „Like a virus needs a body, as soft tissue feeds on blood, I will find you, the urge is here“ heißt es im Text. („So wie ein Virus einen Körper braucht, und Weichteile Blut, so werde auch ich dich finden, denn ich muss“).Obwohl es sich um eine der komplexesten Popshows aller Zeiten handeln dürfte, hätte sie, wenn es nach Björk gegangen wäre, sogar noch ausgeklügelter ausfallen können. „Manchester ist der Prototyp“, sagt sie. „Wir mussten aus Geld-, Zeit- und anderen Gründen vieles weglassen.“ Das Projekt hat bis zum heutigen Tag drei Jahre in Anspruch genommen und so viel Geld verschlungen, dass sie gegenüber dem Rolling Stone äußerte, sie seien froh, wenn sie bei Null rauskommen.Aus rein künstlerischer Sicht hingegen kann man Biophilia nur als Erfolg bezeichnen: Als das Licht ausgeht, ertönt die unverwechselbare Stimme David Attenboroughs – Björks Held aus Kindertagen. Seine Erläuterungen der Lieder wurden noch am selben Tag aufgenommen. Bei älteren Liedern werden ihre Lieblingssequenzen aus den Naturdokumentarfilmen der BBC auf den Bildschirmen gezeigt. Hidden Place wird durch einen anmutigen und schönen, aber zugleich auch verstörenden Clip aus Attenboroughs Life-Serie illustriert, in dem zu sehen ist, wie ein auf dem Meeresboden liegender toter Seehund von psychedelisch anmutenden Würmern und Seesternen verspeist wird.Sie spielt alle zehn Lieder des neuen Albums. Solch eine Menge an neuem Material würde die Geduld eines manchen Publikums auf die Probe stellen. Dieses hier hingegen ist hingerissen. Kaum einer geht auch nur zur Bar. Sinnliches BombardementDies liegt in erster Linie an dem sinnlichen Bombardement aus Musik, Bildern und Kostümen – nicht zuletzt Björks leuchtend orangefarbener Perücke, mit der sie an einen Rothandtamarin erinnert. Ein weiterer Faktor besteht darin, dass sie Kameras und andere Aufnahmegeräte verboten hat: „Es kann schwer sein, Musik für Leute zu machen, die dich für Twitter filmen oder was auch immer. Das ist, wie wenn man mit jemanden in ein Restaurant geht, der seinen Freunden ständig SMS schreibt, während du mit ihm redest – es ist schwer, sich dabei zu konzentrieren.“Und dann ist da natürlich Björks aussergewöhnliche Stimme, die Bono einmal mit einem Eispickel verglichen hat und die selbst mit 45 immer noch unverändert stark ist. „Meine Stimme hat sich verändert“, sagt sie. „Ich dachte, sie sei etwas tiefer geworden. Während meiner letzten Tour bekam ich Stimmbandknötchen, konnte die Bänder aber durch Stimmübungen wieder glätten. Nach drei Jahren habe ich jetzt wieder meinen alten Stimmumfang. Sie „bewundert“ eine ganze Reihe von Sängern: „Chaka Khan, Beyoncé, Antony“ – mit letzterem meint sie Antony Hegarty, mit dem sie früher einmal zusammengearbeitet hat und der sich heute Abend im Publikum befindet. Aber ihr „liebster heute lebender“ Sänger ist der aserbaidschanische Mughamsänger Alim Qasimov. Sie selbst wird heute von einem 24-köpfigen isländischen Chor begleitet, den sie auf YouTube entdeckt hat.Nachdem sie so viel Zeit und so akribisch an Biophilia gearbeitet hat, findet sie es befreiend, auf der Bühne zu stehen. Live-Auftritte und die Arbeit an einem Album sind ihrer Meinung nach „extrem gegensätzlich“. „Nachdem man ewig an einem Album herumgebastelt und die besten Augenblicke ausgewählt hat, ist es sehr erfrischend, alles in einem Aufwasch zu spielen. Dann muss man gewissermaßen das wirkliche Leben zu seinem Recht kommen lassen und akzeptieren, was einem an einem bestimmten Tag zur Verfügung steht – und das reicht auch.“Im Augenblick beschäftigt sie sich mit der Schnittstelle zwischen Musik, Natur und Technik und versucht herauszufinden, ob die drei zusammengenommen helfen könnten, eine nachhaltigere Zukunft zu schaffen. Aber ist sie immer noch Pop? „Ja, absolut“, behauptet sie. Dibben, der ein Buch über sie geschrieben hat, sagt, sie habe Angst, ihre Musik könnte irgendwann nur noch etwas für Akademiker sein. „Oder vielleicht würde ich es eher Folkmusic nennen, Folkmusic unserer Zeit. Ich konnte nie allzu viel mit Warhol und dieser ganzen Popkiste anfangen. Das kam mir immer ein wenig oberflächlich vor. Folk ist mir lieber. Leute. Menschen.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.