Der Zufall choreografiert oft die schönsten Ereignisse. Beinahe zeitgleich mit der Meldung, dass Rupert Murdochs Medienkonzern News Corp. die Myspace-Plattform offenbar nur noch für den Spottpreis von 35 Millionen Dollar verkaufen konnte, blies der Suchmaschinenanbieter Google mit seinem neuen Netzwerk Google+ zum Großangriff auf Facebook. Die goldene Zeit von Myspace war Ende 2008. Das ist drei Jahre her. Erinnert sich noch jemand daran? Und, viel wichtiger: Erinnert sich noch jemand an das, was er damals auf sein Myspace-Profil gestellt hat?
Noch kann niemand absehen, ob in drei Jahren Google+ das nächste allgegenwärtige soziale Netzwerk sein wird, und ob Facebook das Schicksal von Myspace, Second Life und anderen ehemaligen Platzhirschen teilen wird. Aber die Dup
er die Duplizität der Ereignisse ist ein guter Anlass, die eigenen digitalen Gewohnheiten zu hinterfragen. Denn spätestens wenn soziale Netzwerke verramscht werden, haben ihre – mittlerweile meist ehemaligen – Nutzer keinerlei Einfluss mehr darauf, was mit ihren Daten geschieht und wem sie in die Hände fallen. Und auch wenn Google jetzt gegenüber der Konkurrenz beim Thema Datenschutz punkten will, ist es wahrscheinlich, dass Facebook-Nutzer, die wegen dieses Versprechens wechseln, über kurz oder lang vom Regen in die Traufe kommen.Denn was den Wert dieser Firmen ausmacht, sind die Menge der persönlichen Daten, auf die sie zugreifen können und die Wahrscheinlichkeit, mit der die Nutzer dem jeweiligen Dienst treu bleiben – um in Zukunft weitere Daten einzustellen. Diesen Zusammenhang und die Strategien des digitalen Datensammelns wollen Constanze Kurz und Frank Rieger in ihrem Buch Die Datenfresser für ein breiteres Publikum darstellen.Cool bleiben, nicht jeden Mist mitmachenSie beschreiben, wie die Nutzer, gelockt von kostenlosen Internetdiensten, daran gewöhnt worden sind, ständige Datenspender zu sein. Freiwillig geben viele persönliches preis, um Kontakte zu pflegen und das eigene virtuelle Image zu polieren. Dabei ist das Geschäft „Service gegen Daten“ durchaus ein kostspieliges. Kurz und Rieger veranschaulichen die Wirtschaftsinteressen, die hinter den Angeboten stehen. Nicht nur jene der Branchenriesen, sondern vor allem auch die Interessen der vielen kleinen Start-ups, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lange über Wasser halten. Für sie sind private Daten das Mittel, mit dem sie Investoren bei der Stange halten können. Datensätze werden zu zielgenauen Werbeprofilen, die auch unter der Hand verkauft werden. Je freizügiger der Nutzer, desto höher sein Wert.Schon auf dieser Ebene kann der Einzelne nur schwer kontrollieren, welche Informationen über ihn kursieren, von wem sie gespeichert und über ausgefuchste Algorithmen mit anderen im Netz verfügbaren Daten kombiniert werden. Kurz und Rieger gehen aber noch einen Schritt weiter und verweisen auf Technologien, die ungefragt und unbemerkt persönliche Daten sammeln und auswerten. Die Ortungsdaten von Mobilfunkgeräten zählen ebenso dazu wie Gesichtserkennungs-Programme, die Facebook vor Kurzem eingeführt hat, und die bald auch an Flughäfen und in Bahnhöfen eingesetzt werden sollen oder sogar schon werden.Angesichts der Datensammelwut von Staat und Wirtschaft raten die Autoren: Cool bleiben, nicht jeden Mist mitmachen, einen eigenen Standpunkt erarbeiten, sparsam mit den eigenen Daten umgehen und Grenzen setzen – auch dem eigenen Bekanntenkreis. Viel konkreter wird es allerdings nicht. Zwar beschreiben Kurz und Rieger durchaus einleuchtend ein Klima des Misstrauens und des Anpassungsdrucks, das die Gesellschaft zunehmend bestimmen wird – befördert durch die Wirtschaftsinteressen von Sicherheitsfirmen. Die im Untertitel versprochene Antwort auf die Frage, wie wir die Kontrolle über unsere persönlichen Daten und unsere digitale Mündigkeit zurückerlangen können, kommt im Vergleich dazu jedoch zu kurz. „Es gibt keine allgemeingültigen Regeln, nur wenige Erfahrungen, kein Handbuch, dem man einfach folgt“, schreiben Kurz und Rieger. Sie fordern einerseits den Staat auf, ihre Bürger vor Monopolisten im Netz zu schützen und ihnen zum Beispiel mit Datenschutz-Gütesiegeln bei der Abwägung von Gefahren zu helfen. Andererseits beschreiben sie die durch die Sicherheitsmanie geförderte staatliche Daten-Sammelwut. Viel Hoffnung scheint es also nicht zu geben.Aber sind Privatsphäre und Datenschutz vielleicht Themen, die morgen niemanden mehr interessieren, weil sowieso jeder alles von jedem weiß oder zumindest wissen könnte? Was, wenn wir nicht weniger, sondern mehr von uns preisgeben, um eine Entwicklung zu beschleunigen, an deren Ende eventuell die alte Wahrheit „Wissen ist Macht“ ihre Gültigkeit verlieren und echte Chancengleichheit entstehen könnte? Extreme Thesen mit extremen Schlussfolgerungen für das Verhalten im Netz haben Vertretern dieser so genannten „Post-Privacy-Idee“ wie Julia Schramm oder Christian Heller auch in traditionellen Medien hohe Aufmerksamkeit beschert. Nicht zuletzt, weil sie explizit eine Gegenposition zu Datenschützern wie Kurz und Rieger einnehmen. Diese hatten die Post-Privatisten zuvor als „Spacken“ bezeichnet und versucht, sie als Interessenvertreter jener Firmen zu entlarven, die am meisten von den Nutzerdaten profitieren.Verbale KraftmeiereiIm Netz wird die Diskussion weitergeführt. Leider allerdings in einem Duktus, dem viele Menschen, deren Leben noch weitgehend offline stattfindet, nicht lange folgen mögen. Dabei findet die Debatte zum Teil auf hohem theoretischen Niveau statt. Die Argumente beider Seiten lassen ein erstes Bild des künftigen, komplett vernetzten Menschens erkennen. Zwar geht es stets auch um den Stand des technisch Möglichen, zur Debatte stehen aber vor allem grundlegende gesellschaftliche Werte wie Vertrauen, Sicherheit oder Schutz der (sozial) Schwachen. Befreit von der verbalen Kraftmeierei der Blogs könnte die Diskussion weitaus fruchtbarer werden und womöglich gar praktische Handlungsvorschläge für jene hervorbringen, die ein weniger technikaffines Leben führen. Es ist nach wie vor traditionelle Aufklärungsarbeit, die die Mehrheit der Internetnutzer aus ihrer Lethargie holen könnte. Denn digitale Mündigkeit setzt voraus, die technischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der digitalen Welt zumindest in Grundzügen zu kennen, selbst entscheiden und danach handeln zu können – je nachdem, ob man nun vorsichtig oder freigiebig ist.Bislang noch verursacht das Thema Datenschutz bei vielen allerdings ein ähnliches Unwohlsein wie der Gedanke an die private Altersvorsorge. Es ist schwierig, Entscheidungen zu treffen, wenn die Folgen des eigenen Handelns in weiter Zukunft liegen. Das einzige Übel, dem sich die meisten Internetsurfer bereits jetzt bewusst sind, ist personalisierte Werbung. Nicht jeder sieht wie Kurz und Rieger bereits eine durch Staat und Wirtschaft überwachte Gesellschaft am Horizont.Auch wenn sich der Chaos Computer Club, dessen Mitglieder Kurz und Rieger sind, zu Recht dagegen sträubt, zum institutionalisierten Erklärer der sozialen und gesellschaftlichen Folgen des Internets zu werden – ohne Aufklärung bedeutet gesellschaftlicher Wandel nicht automatisch Fortschritt.Die Betonung des Datenschutzes bei der Einführungskampagne von Google+ jedenfalls ist kein Zufall: Der Branchenriese zeigt so wenigstens: ihm ist bewusst, dass das Thema die Entscheidungen der User inzwischen stärker beeinflusst als früher. Schließlich muss er für seinen Dienst schon aus rein betriebswirtschaftlichen Gründen verhindern, was Kurz und Rieger pünktlich zum Start von Google+ auf der Website zum Buch datenfresser.info veröffentlicht haben: Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, die erklärt, wie man seinen Facebook-Account löscht und alle Daten entfernt. Tatsächlich und endgültig.