Die karge Poesie einer Gräte

Shortlist Angelika Klüssendorfs "Das Mädchen" beschreibt ein prekäres Milieu und macht das Benachteiligtsein unerbittlich einprägsam

Der Roman Das Mädchen ist nicht weit von der Bilderwelt der Apokalypse entfernt. Unter einer schwefelgelben Sonne fliegen Exkremente aus dem Fenster eines heruntergekommenen Mietshauses auf die Passanten, geworfen von einem zwölfjährigen Mädchen. Das Mädchen sitzt, von der Mutter eingesperrt, mit dem jüngeren Bruder in der Wohnung fest und spielt traurige Spiele, auch solche, in denen es am Bruder ausagiert, was es von der labilen Mutter gelernt hat.

Fast alle Protagonisten haben Erfahrung mit dem Quälen und Gequältwerden: die Mutter, Angestellte im Mitropa-Restaurant, in deren Leben die Männer kommen und gehen, die ihre ungewollten Kinder hasst, sie demütigt, schlägt und vernachlässigt, der Bruder Alex mit den blonden Engelslocken und hospitalistischen Tendenzen, der alkoholabhängige Vater des Mädchens, der nach der Trennung von der Mutter nur noch zeitweilig auftaucht, und schließlich das Mädchen selbst, dünn, verschlossen und klug genug, die eigene Situation realistisch einzuschätzen.

Es ist die Situation einer fast chancenlosen Außenseiterin. „Eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr“, heißt es im Roman. Selten gelingt das Davonkommen. Vor diesem Hintergrund sind jene Momente umso eindringlicher, in denen es das Mädchen schafft, dem Elend lesend zu entrinnen. Das kluge Gretel aus Grimms Märchen, das zwei Hühner für eine Feier vorbereiten soll und sie stattdessen aufisst, wird ihr zum role model. Im schimmeligen Keller des Mietshauses taucht es in die Welt von Brehms Tierleben ein, Lektüren der Romane Zolas, Dumas’ und Balzacs wecken den Traum von Freiheit.

Lehre als Rinderzüchterin

Figuren, die am Rand der Gesellschaft leben, und solche, die zwar mittendrin zu sein scheinen, aber dennoch keinen Halt finden, bevölkern den Kosmos der 1958 geborenen, in Leipzig aufgewachsenen Autorin. Der Ton ihrer Texte ist stets distanziert, kühl, nüchtern. Auch in Das Mädchen wird dieser kühle Ton beibehalten. Jedes Wort sitzt und trifft, die Prosa entspricht frappierend der Statur des Mädchens, das als „Gräte“ und „Hungerhaken“ verhöhnt wird.

Trotz seines Interesses für die Figur des Mädchens ist Klüssendorfs Roman weit entfernt von einer psychologisierenden Sozialstudie. Und so ist die DDR deutlich als historischer Hintergrund erkennbar. Doch wird weniger Ideologiekritik geübt als vielmehr von einem überall denkbaren prekären Milieu erzählt, in dem Erniedrigte und Beleidigte hilf- und rücksichtslos gegen ihren eigenen Untergang anstrampeln. Die Unerbittlichkeit des Benachteiligtseins prägt sich in den Kopf des Lesers ein. Das macht die Lektüre oft schwer erträglich.

Fast paradox wirkt, dass das Mädchen schließlich in einem Heim für Schwererziehbare zu mehr Freiheit und Selbstbestimmtheit gelangen wird. Zwar hängen dort die zehn Gebote der sozialistischen Moral im Treppenhaus aus, doch ist das Mädchen umgeben von Kindern, die sich wie es selbst früh verhärten mussten. Aber in den Kämpfen um einen Platz in der Gruppe der regelrecht aussortierten Jugendlichen behauptet es sich besser als unter der elterlichen Willkürherrschaft der früheren Jahre, eröffnen sich Schutzräume für seine Adoleszenz.

Auf den mit Hängen und Würgen erreichten Schulabschluss folgt schließlich die Lehre als Rinderzüchterin. Dass die inzwischen Siebzehnjährige mittlerweile gelernt haben soll, sich zu nehmen, was sie braucht, wie der Klappentext idealisierend verkündet, wird man nicht völlig von der Hand weisen. Doch trotz seiner wenig zimperlichen Überlebensstrategien, trotz der Momente von Zärtlichkeit und Selbstachtung weiß das Mädchen nicht, was es aus seinem Leben machen soll. Man wird nicht so schnell mit ihm fertig werden, nicht mit diesem Roman, dem in seiner Kürze etwas gelingt, was in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten ist: den Blick zum Rand und den dort herrschenden Gesetzen zu lenken. Das Mädchen legt Zeugnis ab von der Sehnsucht einer einzigartigen Figur, die stellvertretend spricht für viele, deren Stimmen häufig überhört werden.


Das MädchenAngelika Klüssendorf Kiepenheuer & Witsch 2011, 184 S., geb., 18,99

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Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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