Ich könnte Ihnen ein dreizehnhundertseitenlanges, also sehr, sehr dickes Buch darüber schreiben, wenn ich wollte, aber ich will wenigstens jetzt noch nicht. Vielleicht später.“ – so droht der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) in einem seiner kurzen Texte. Ein paar Seiten weiter heißt es: „Nun wieder diese kleine Prosa, diese Abweichungen und -zweigungen […].“ Seine kleinen Abweichverzweigungen freilich füllten weit mehr als nur ein dickes, dickes Buch. Allein die Mikrogramme, aus deren Beständen diese Sätze stammen und die bereits sechs Bände füllten, werden, wenn sie einmal gänzlich publiziert sind, wohl mehr als 4.000 Seiten umfassen.
Schreibenstrainingslager
Der Zuschnitt und die Geschic
er Zuschnitt und die Geschichte dieser Texte gehören bestimmt zum Wundersamsten in der deutschen Literatur. Walsers Nachlassverwalter Carl Seelig hatte, was andere für kranke Kritzeleien hielten, immerhin als „selbsterfunden, nicht entzifferbare Geheimschrift“ angesehen – über 500 Blätter und Zettel, meistens zerschnittene Kalenderblätter, auch Formulare, Quittungen, Telegramme, Post- und Visitenkarten. Allermeist randlos gefüllt mit winzigsten Bleistiftlinien, nicht selten angelegt wie Zeitungskolumnen. Später wurde dann eine Kurrentschrift darin erkannt – und damit ging der Entzifferungsehrgeiz einher. 20 Jahre haben Bernhard Echte und Werner Morlang darüber gesessen.Nach und nach stellte sich heraus, dass Walser diese Mikrogramme offenbar als Schreibenstrainingslager benutzte, offenbar aber auch immer wieder Texte daraus aussingelte und, mehr oder weniger überarbeitet, mehr oder weniger erfolgreich Zeitungen anbot. Das ist schon deshalb faszinierend, weil man hier einer der literarischsten Existenzen der deutschen Literatur begegnet, einem, dessen Texte gerade in ihrer Unabtrennbarkeit von privater Diskretheit, höchster Literarizität und Medienreflexion vielleicht am schönsten und reinsten verkörpern, was einmal die Utopie von Literatur und literarischem Schreiben war. Bewundernswert ist aber auch die Entzifferungsleistung.Hier trifft anschmiegsamste Philologie auf biegsamste Poesie. Heißt es nun „Gringele von Mohnblättern mit niegezählten Haarschwärzlichkeiten“ oder „Herausgeber von Morgenblättern mit ungezählten Herrscherähnlichkeiten“? Als Leser kann man das jetzt nachprüfen. Ein Auswahlband mit 33 Texten enthält nämlich zugleich die 1:1-Reproduktionen der Vorlagen. Oft freilich weiß das ungeübte Auge nicht einmal, wo der eine Text aufhört und der andere anfängt. Über diesen detektivischen Spurenreiz hinaus aber ist der Band ein doppeltes Vergnügen: Er ist in seiner sorgfältigen Gediegenheit, besorgt von Lucas Marco Gisi, Reto Sorg und Peter Stocker, eine unwiderstehliche Hommage an die materiellen Zustände von Literatur und ihre sinnliche Verführungskraft. Und er ist ein besonders schönes Walser-Stückli-Stück! Es sind seine Üblichkeiten, Schreiben übers Schreiben, mindest ebenso über das damit verwandte sinnliche Liebesverlangen und nahezu gleichauf damit der verschwägerte Gasthausgang („Und während des Sonntagsspaziergangs besuchte ich kein einziges Wirtshaus. Ich hielt das für eine Leistung.“)Großfeuer der SchamröteEs gibt die obligaten Selbsterhellungen, zum Beispiel, „daß ich zu der sehr weitverbreiteten Gruppe von Plauderern gehöre, die mündlich oder schriftlich versichern, sie seien diskret.“ Wie er bei aller Verführung zur Schreibmaschine doch „der Handschriftidee, dem Fingergesetz treu blieb“, überhaupt „gehorchte ich meinen eigenen Grundsätzen, die mir Grundsatzlosigkeiten erlaubten“.Es gibt das ausgestellte Kalkül wie die Koketterie mit dem Leser, vorzugsweise naturgemäß mit der Leserin; es gibt so schöne Wörter wie „Gesamtlebensappetit“ oder „Unscheinbarkeitsleben“, eine Anspielung, „die aus diesen Worten wie aus einem Fensterchen herausguckte“ und dergleichen mehr. Aber durchaus auch veritable Hinterhältigkeiten, wenn er sich der Zumutung, ein Gedicht von Verlaine zu übersetzen, durch dessen Verballhornung entledigt oder wenn er Lenin am Berner Bärengraben auftreten lässt.Schöne, aktualisierbare Merksätze wie: „Ein Großfeuer der Schamröte durchzieht zur Zeit Europa.“, wunderbar abstruse Geschichten wie die von der grausamen Frau Rundlich und der kopflosen Fliege. Und auch dies, wen immer es betreffen mag: „Der Schweizer trägt sozusagen eine nationale Maske, die ihm mancherlei Notwendigkeiten aufgenötigt haben mögen. Wo er fröhlich zu sein scheint, ist er ernster, wo man [ihn] naiv sich benehmen sieht, bewußtseinshafter, als man gern annimmt.“