Ruhe im Sturm der Zeitläufte

Kino Das Familienalbum von vier Generationen wird zum Sprechen gebracht: Boris Hars-Tschachotin spürt im Dokumentarfilm „Sergej in der Urne“ seinem Urgroßvater nach

Zu den zahlreichen Talenten, über die Sergej Stepanowitsch Tschachotin verfügte, gehörte das zur Erfindung von Piktogrammen. Er war ein Meister der visuellen Kurzschrift, der eindringliche, griffige Zeichen zu setzen wusste. So erdachte er etwa das Logo der „Eisernen Front“, der überparteilichen Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten: drei Pfeile, mit denen das Hakenkreuz in die Flucht geschlagen werden sollte. Um seiner Ablehnung der atomaren Rüstung Ausdruck zu verleihen, brauchte er nur zwei Striche, mit denen er die Bombe durchkreuzte.

Die drei Pfeile erinnern nicht von ungefähr an das „Strahlenskalpell“, das der Mikrobiologe zum Zweck der Zellteilung erfand und das später zu einer Grundlage der Lasertechnik und Krebstherapie werden sollte. Das Ausmerzen des Bösen war ein Ziel, in dem sich sein Engagement als Naturwissenschaftler und Demokrat trafen. Sein Urenkel, der Filmemacher Boris Hars-Tschachotin, hat sich nun auf Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte gemacht. Es wäre falsch zu behaupten, er habe seinem Vorfahren in Sergej in der Urne ein Denkmal gesetzt. Allerdings ist der Film auf einer Ebene, die nicht unbedingt seine wichtigste ist, das Porträt eines Mannes von enormer, beklemmender Vitalität.

Der 1883 in Konstantinopel als Diplomatensohn geborene Tschachotin hatte viele Leben. Seine Gegner hat dieser Weltbürger aus Schicksal und eigener Natur fast sämtlich überlebt. 1902 kämpfte er im studentischen Widerstand gegen den Zaren und musste das erste von vielen Exilen antreten. 1908 überstand er das Erdbeben von Messina, später war er zeitweilig Propagandaminister der Bolschewiken (und Erzfeind Trotzkis), entwand sich dem Terror Hitlers und Stalins. Gleichzeitig leistete der Freund Pawlows und Einsteins naturwissenschaftliche Pionierarbeit.

Erbe des Frauenheldes

Tschachotin heiratete fünfmal (die letzte Ehe ging er mit 82 Jahren ein, auch sie wurde geschieden) und zeugte acht Söhne. Er gründete lauter Familien, die er in den Stürmen der Zeitläufte sich selbst überließ. Das zentrale Motiv des deutschen Nachkriegsfilms, der fehlende Vater, vervielfacht sich in seinem Leben auf je traumatische Weise. Auch wenn der Regisseur die Großtaten des Forschers, Demokraten und Pazifisten würdigt, konnte aus seinem Film keine Hagiografie werden. Tschachotin hat, wie es mit sublimer Untertreibung im Off-Kommentar heißt, in seiner Familie „viel Unruhe hinterlassen“.

Im Verlauf von sieben Jahren hat der Urenkel den Nachlass Sergejs gesichtet und dessen vier noch lebende Söhne interviewt. Kränkung, Hass und Brüderzwist lagern sich in unterschiedlichen, aber stets hohen Graden in ihren Gesichtern und Erzählungen ab. Der Großvater des Regisseurs, Wenja, ist der eindringlichste Zeitzeuge; als ältester Sohn lebt er am längsten mit Verletzung und Zorn. Der jovialste, Andrej, ist als Algerienkämpfer und Le-Pen-Anhänger zwar politischer Antipode des Vaters, eifert ihm als Frauenheld jedoch munter nach.

So oder so haben diese gebrochenen Biografien das Erbe des Vaters angenommen. Hars-Tschachotin, der Assistent von großen Production Designern wie Ken Adam und Susanne Hopf war, setzt die Protagonisten großartig in Szene: mit Gespür dafür, wie ein Ambiente einen Charakter spiegelt. In animierten Szenen wird das Familienalbum zum Sprechen, werden die zerstrittenen Brüder in Dialog miteinander gebracht. Dass Sergejs Urne nach drei Jahrzehnten beigesetzt wird, ist kein wirkliches Happy-End. Nur ein Ruhepunkt inmitten der Stürme.

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