Die Marke „Stasi“

Hartz Die Arbeitsagentur lässt Erwerbslose sogar beschatten, die Betroffenen beklagen „Stasi-Methoden“. Der Vergleich hat Konjunktur – und führt doch in die Irre

Wer gedacht hatte, der Umgang mit Erwerbslosen hierzulande habe ein Maß erreicht, das nicht mehr zu übertreffen ist, wird einmal mehr von der Realität eingeholt. Erneut versucht die Bundesagentur für Arbeit ihre ohnehin schon von Zwang und Sanktionen geprägte Praxis zu verschärfen. Mit einer Anweisung vom 20. Mai an alle Hartz-Arbeitsgemeinschaften und Jobcenter fordert die Nürnberger Behörde ihre Niederlassungen kaum verhohlen auf, künftig für eine engmaschigere Kontrolle zu sorgen - und notfalls auch „Observationen“ und Durchsuchungen von Schränken vorzunehmen.

Zwar weist die Handreichung der Bundesagentur auf die Grenzen hin, etwa die Unverletzlichkeit der Wohnung und das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Zugleich wird aber „eine Ausnahme“ gefordert, wenn der „Verdacht auf einen besonders schwerwiegenden Leistungsmissbrauch“ besteht und eine „anderweitige Aufklärung“ nicht möglich ist. Man stellt sich die Situation vor dem geistigen Auge schon vor: Ein ohnehin fortlaufend gedemütigter und zur Rechenschaft verpflichteter Erwerbsloser steht, womöglich ohne nähere Kenntnis seiner Rechte, an der Wohnungstür den Kontrolleuren der Arbeitsagentur gegenüber, die wiederum selbst unter Erfolgsdruck stehen.

Die Empörung der Betroffenen-Verbände ist mehr als verständlich. Erneut strotze eine Dekret der Bundesagentur „vor Anweisungen zu rechtswidrigen Datenerhebungen und Leistungsverweigerungen“, klagen Organisationen wie das Erwerbslosenforum oder die Internetplattform gegen-hartz.de. Der Skandal wird auch nicht dadurch geringer, dass die Bundesagentur mitteilt, Kontrollen dieser Art seien seit Jahren üblich – im Gegenteil. Das auch in anderem Zusammenhang immer wieder gezeichnete „Horrorszenario“ vom „gläsernen Bürger“ sei „dagegen nur ein müder Abklatsch“. Wer sich „an die Bespitzelung der DDR-Bürger durch die Stasi erinnert fühlt, liegt genau richtig“.

Tatsächlich? Warum wird eigentlich fast immer, wenn Überwachungspraktiken in der Bundesrepublik skandalisiert werden sollen, der Vergleich mit dem Kontrollapparat in der DDR bemüht? Schäubles Methoden als „Stasi 2.0“; die Schnüffelpraxis bei Telekom und Bahn - alles wie zu Mielkes Zeiten? Oder wird hier ein untergegangenes System zum Original gemacht, das es gar nicht ist. Mehdorn und Bundesagentur-Chef Weise, Konzernvorstände und Gesetzgeber haben doch nicht in der DDR abgekupfert, was man ihnen jetzt zu Recht vorwirft. Überwachen und Strafen – das ist keine Sonderheit des verfälschten Sozialismus, die vom real tatsächlich existierenden Kapitalismus bloß nachgeahmt wird; Zwang und Kontrolle sind nicht das aus der Zeit gefallene Außerirdische, schon gar nicht das Falsche im Richtigen.

Und so besteht zumindest eine Gefahr: Mit dem pfeilschnellen Herbeizitieren der historischen Marke „Stasi“ lenken die Kritiker der aktuellen, wenn man so will: systemimmanenten Schnüffelei von ihrem Gegenstand ab.

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