Seit Anfang Juli 2009 werden in Deutschland offiziell Pflegeeinrichtungen begutachtet, aber für den Medizinischen Dienst ist eine “Stiftung Warentest“ nicht angemessen
Durchgelegen, unterernährt und ungepflegt: Das war der traurige Zustand alter Menschen, deren letzte Reise vor der Einäscherung über das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf führte. Von den 8.818 Verstorbenen, die in der dortigen Rechtsmedizin begutachtet wurden, waren 15 Prozent untergewichtig, vielen fehlten die Zähne oder sie wiesen Liegeschäden und Entzündungen auf. Die Situation, so der Rechtsmediziner Klaus Püschel, sei „bedrückend“, vor allem derjenigen Alten, die abhängig und in einer fremden Umgebung sterben.
Die Hamburger Studie hätte zeitlich kaum passender kommen können und dürfte die ohnehin aufgeladene Diskussion um die künftige Bewertung von Pflegeeinrichtungen noch einmal anheizen. Dabei
zen. Dabei ist das, was Püschel und sein Team herausfanden, nicht neu. Vor zwei Jahren bereits hatte eine Untersuchung des Medizinischen Dienstes beim Spitzenverband der Krankenkassen (MDS) gravierende Pflegemängel in der ambulanten und häuslichen Pflege aufgelistet und Defizite insbesondere bei der Dekubitusprophylaxe (Vorbeugung des so genannten Durchliegens) und in Bezug auf Ernährung und Flüssigkeitsversorgung konstatiert. Schon damals stand das von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) geplante Bewertungs- und Zertifizierungsverfahren drohend am Horizont und sorgte – vor allem wegen der beabsichtigten Offenlegung der Prüfberichte im Internet – bei den Heimbetreibern für heftigen Unmut.Krach um KriterienAm 1. Juli ging der „Pflege-TÜV“ nun tatsächlich an den Start, wobei schon der umgangssprachlich eingebürgerte Begriff in eine falsche Richtung weist. Denn anders als beim Auto werden die Heime nicht auf technische Funktionalität und Sicherheit überprüft, sondern darauf, wie gut ihre Bewohner versorgt sind. Um den Kriterienkatalog hatte es schon in Vorfeld enormen Krach gegeben. Eine vom Gesundheitsministerium berufene Expertenrunde hatte sich jahrelang schwer damit getan, einen adäquaten Pflegebegriff zu erarbeiten und konnte ihn erst dieses Frühjahr vorlegen. Währenddessen gingen die Meinungen darüber, was der Pflege-TÜV eigentlich prüfen soll, das heißt, wie gute Pflege „gemessen“ und gewichtet werden soll, weit auseinander.82 Prüfkriterien fließen nun beispielsweise in die Beurteilung der Heimpflege ein. 35 betreffen die medizinische Versorgung und Pflege: Neben der genannten Dekubitusprophylaxe wird zum Beispiel nach der Schmerz- und Flüssigkeitsversorgung gefragt oder dem Sturzrisiko, aber auch danach, ob Patientenverfügungen oder in einem Heim freiheitseinschränkende Maßnahmen üblich sind. Im zweiten der fünf Qualitätsbereiche geht es um die Demenzversorgung, im dritten werden Alltagsgestaltung und soziale Kontakte beurteilt. Unterbringung, Essensversorgung und Hygienestandards werden ebenfalls in zehn Unterkriterien erfasst. Im letzten Teil sind die Bewohner selbst nach ihrer Einschätzung gefragt. Aus dieser umfassenden Bewertung ergibt sich eine Gesamtnote zwischen eins und sechs, die nach §115 Sozialgesetzbuch XI veröffentlicht werden muss.Äpfel mit Birnen aufwiegenNun lässt sich ohnehin an einem aus der Schule übernommenen und auf ein soziales Beziehungsgeflecht übertragenen Bewertungssystem zweifeln: Gute Pflege hat mit abfragbarem Schulwissen wenig zu tun. Die massive Kritik richtet sich aber vor allem gegen die nivellierende Tendenz der qualitativ sehr unterschiedlich wiegenden Kriterien: Wenn etwa schlechte medizinische Versorgung mit vorbildlicher Dokumentation oder schlechte Zimmerausstattung mit einem gut lesbaren Speiseplan „ausgeglichen“ werden kann, hat die „Endnote“ nur noch wenig Aussagekraft.Entsprechend vernichtend sind die Urteile. Die schlechten Zustände würden eher verschleiert als aufgedeckt, fürchtet Ursula Weibler-Villalobus vom Medizinischen Dienst Rheinland-Pfalz. Die Kassen hätten sich nicht gegen die Pflegelobbyisten durchgesetzt, heißt es, und Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer spricht im Spiegel sogar von „reiner Volksverdummung“. Auch das Stichprobeverfahren steht im Kreuzfeuer der Kritik. Bis 2011 soll jedes zehnte Heim – unangemeldet – überprüft werden. Immerhin wurde in letzter Minute nachgebessert: Liegen Hinweise auf Beschwerden von Heimbewohnern oder Angehörigen vor, sind die Prüfer vom Medizinischen Dienst aufgerufen, dem Vorwurf auch gezielt nachzugehen.Durch die Aufregung über das Prozedere und die im Spätsommer zu erwartenden ersten Veröffentlichungen im Internet, die die Heimbetreiber zu hintertreiben suchten, ist die prüfungsbeauftragte Institution allerdings völlig aus dem Blick geraten. Denn der Medizinische Dienst (MDK) ist keine „Stiftung Warentest“ und auch nicht mit dem TÜV vergleichbar. Offiziell zwar unabhängig, sind die Prüfer des MDK aber Dienstleister der Krankenkassen und durchaus Interesse geleitet. Deshalb hatte Christoph Kranich von der Verbraucherzentrale Hamburg schon auf dem Pflegekongress 2007 einen selbst verwalteten Medizinischen Dienst und ein transparenteres Begutachtungswesen angeregt. Und Jens-Uwe Niehoff sieht in einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin den MDK perspektivisch vor die Alternativen gestellt, als Kasseneinrichtung weiter zu agieren, sich der Solidargemeinschaft als unabhängiger Beratungs- und Begutachtungsdienst zur Verfügung zu stellen oder sich zu einem unabhängigen Marktunternehmen zu entwickeln.Den Pflege-TÜV dürften solche Überlegungen bislang kaum tangieren. Ob er überhaupt Wirkung zeitigen wird, ist vor dem Hintergrund des absehbaren drohenden Pflegenotstands ohnehin fraglich geworden. Möglicherweise endet die ganze Begutachterei wie an der Uni, wo sich kaum ein Dozent traut, einen Studierenden mit einem „mangelhaft“ nach Hause zu schicken. Ein Pflegeheim mit der Note „ungenügend“ wird es wohl auch nicht geben.Pflege-TÜV Seit Anfang Juli werden Pflegeeinrichtungen begutachtet – doch wie kann man gute Pflege messen?