Ohrenbetäubende Detonationen und das Zerbersten von Fensterscheiben wecken den 13-jährigen Jan Kaminski am frühen Morgen des 1. September 1939 auf. „Ich wusste nicht, was passiert war. In diesem Augenblick dachte ich an den Weltuntergang“, erinnert sich Kaminski 70 Jahre später. Aus 800 Meter Höhe werfen deutsche Stukas Tausende Kilogramm an Sprengladungen auf die noch schlafende Stadt Wielun an der damaligen Reichsgrenze. Gegen 4.40 Uhr am Morgen des 1. September 1939 detonieren die ersten Bomben in der 16.000 Einwohner zählenden Ortschaft. Der Zweite Weltkrieg begann damit rund fünf Minuten früher, als in den Geschichtsbüchern gelehrt wird.
Die Worte von Adolf Hitler „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“ sind gleich
ind gleich in mehrfacher Hinsicht eine Farce. Der Kreuzer Schleswig-Holstein griff das polnische Waffendepot auf der Westerplatte im Danziger Hafen bereits eine Stunde vorher, punkt 4.45 Uhr an, aber da brannten schon die ersten Häuser im etwa 400 Kilometer weiter südlich gelegenen Wielun. Lediglich ein Gewitter-Mikrofon Der Einsatzbericht des Stuka-Geschwaders 76 der Luftflotte 4 verzeichnet als Angriffbeginn zwar die Zeit: 5.40 Uhr, Augenzeugen wie Jan Kaminski erinnern den Beginn des Infernos jedoch eine Stunde früher. In der historischen Forschung ist die Frage nicht eindeutig geklärt. Entgegen der Formulierung Hitlers konnte aber von „Zurück-Schießen“ keine Rede sein: Deutsche Kommandos inszenierten „polnische Provokationen“, um einen propagandistischen Vorwand für den Überfall auf den östlichen Nachbarn präsentieren zu können.Der wohl bekannteste ist der von einer Handvoll SS-Männern am Vorabend des Zweiten Weltkriegs inszenierte Scheinüberfall auf den Rundfunksender im damaligen Gleiwitz (Gliwice). „Das war kein Vorwand, sondern ein Alibi für die Weltöffentlichkeit“, erklärt Andrzej Jarczewski, Leiter des Museums für Geschichte des Radios und Medienkunst in Gleiwitz. „Hitler hatte schon längst den Angriffsbefehl gegeben.“ Der Überfall auf den Sender war nur eine von vielen Provokationen, wie es sie während der letzten Augusttage des Jahres 1939 gab. Aktionen, teilweise voller Pannen, wie Jarczewski meint.Bei seinen Führungen durch das ehemalige Rundfunkgebäude erklärt er akribisch den Ablauf des Scheinüberfalls am 31. August 1939: Sieben Männer stürmten gegen 20 Uhr das Gebäude und wollten das Kommuniqué senden, dass der deutsche Sender in polnischer Hand sei. Eine Sprecherkabine suchte man – in dem bis heute im Originalzustand belassenen Raum – vergeblich. Lediglich ein so genanntes Gewitter-Mikrofon befand sich im Sender, mit dessen Hilfe die deutschen Eindringlinge erst nach minutenlangem Suchen den Satz „der Sender befindet sich in polnischer Hand“ übertragen konnten.Ohne Pannen dagegen verlief nur wenige Stunden später am Morgen des 1. September 1939 die Zerstörung der Stadt Wielun durch das Stuka-Geschwader 76: „Ziel vernichtet, Brände beobachtet“, lautete der Vermerk im Einsatzbericht von Hauptmann Walter Sigel nach seiner Landung auf der Rollbahn in Nieder-Ellguth, von wo aus die Staffel gestartet war. Im Laufe des Tages werden insgesamt drei Angriffswellen geflogen, über 70 Prozent der Stadt Wilun sind bereits nicht mehr vorhanden, als im Laufe des Tages in Berlin die Menschen vom Beginn des Krieges erfahren. Irrtum oder Exempel? „Wielun ist ein Symbol der Aggression gegen Polen“, sagt der Wieluner Historiker Tadeusz Olejnik und fügt hinzu: „Es war das erste Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs.“ Tod und Zerstörung suchten in Wielun nur die Zivilbevölkerung heim. Polnisches Militär war in der Stadt nicht stationiert, über nennenswerte Industrie verfügte sie ebenso wenig. Einen stichhaltigen Grund für den Bombenhagel über Wielun konnte Olejnik in den Archiven nicht finden. Ihn wundert es, dass am gleichen Tag das Geschwader noch zweimal wiederkam, obgleich „keine besondere Feindbewegung“ im Einsatzbericht festgestellt wurde.Deutsche und polnische Historiker halten sich an verschiedene Thesen über das Inferno. Erstere neigen zu der Auffassung, der Luftangriff sei wegen Bodennebels ein Unfall gewesen und galt den polnischen Divisionen, die sich außerhalb der Stadt aufhielten. Polnische Analytiker argumentieren, die Zerstörung der Stadt war eine Erprobung des zerstörerischen Potentials der Luftwaffe und hatte auch ein psychologisches und propagandistisches Moment. Die fliehenden Bewohner aus Wielun sollten auf ihrem Weg ins Landesinnere durch ihre Schilderung Angst und Schrecken verbreiten.Auf die Flucht begab sich am 1. September 1939 auch die Familie von Jan Kaminski. Er sollte nach dem ersten Angriff schnell Brot besorgen und lief dazu auf die Straße heraus und vorbei am Krankenhaus. „Dort kamen die Verletzten blutend heraus“, erinnert sich der heute 83-Jährige an den Anblick vor 70 Jahren. Obwohl das Hospital auf dem Dach mit einem roten Kreuz gekennzeichnet war, wurde es von den Stuka-Piloten bombardiert. Zweimal wurde wegen der Zerstörung des Spitals in Wielun in der Bundesrepublik ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und wieder eingestellt. Meher als 1.200 Einwohner Wieluns kamen bei dem Bombeninferno am Morgen des 1. September 1939 ums Leben. Bald nach dem Krieg machte sich die Stadt an den Wiederaufbau, trotzdem erinnert heute nur noch wenig an die Zeit vor dem Krieg. Am Platz des zerstörten Krankenhauses steht eine Grundschule.