Als vor einem Jahr die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland ratifiziert wurde, hatten wohl nur wenige ihre enorme Reichweite einschätzen können. Man hatte bei der Übersetzung der Konvention ins Deutsche noch getrickst und für den Begriff „inclusion“ das schwächere Wort „Integration“ gesetzt. Heute ist „Inklusion“ längst zu einem magischen Stichwort geworden, das sich auf Schulfluren, in Bildungsbehörden und auf Elternversammlungen herumgesprochen hat. Die Verpflichtungen, die aus der Konvention erwachsen, könnten Schulen wirklich verändern. Denn Deutschland hat dafür zu sorgen, dass ein inklusives Bildungssystem aufgebaut wird – in Schulen und Universitäten, bei der Berufsausbildung un
Politik : Ein magisches Stichwort
In vielen Staaten lernen Behinderte und Nicht-Behinderte längst gemeinsam – Deutschland hat ein Jahr nach Ratifizierung der UN-Konvention noch einen langen Weg vor sich
Von
Connie Uschtrin
hland hat dafür zu sorgen, dass ein inklusives Bildungssystem aufgebaut wird – in Schulen und Universitäten, bei der Berufsausbildung und in Kitas.Hierzulande werden noch immer 85 Prozent der Kinder, denen eine Behinderung attestiert wird, auf eine Förderschule geschickt. Inklusion bezeichnet dabei nicht weniger als die Umkehrung der Verhältnisse, nicht nur, was diese Zahlen angeht. Derzeit besitzen gut 400.000 Kinder einen besonderen Förderbedarf. Während die üblichen Integrationsbemühungen Menschen, die ausgegrenzt wurden wieder in die Gesellschaft hineinzuholen versuchen, vermeidet Inklusion von vornherein die Ausgrenzung. Das heißt, künftig müssen die Institutionen die Bedingungen für Menschen mit Behinderung schaffen.Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Hans Wocken spricht von einem „programmatischen Willkommensgruß“ der für alle gelte. Für ihn ist das wichtigste Merkmal inklusiven Unterrichts die Vielfalt der Schüler. Weil man für höchst unterschiedliche Kinder aber nicht nach ein und demselben Strickmuster vorgehen kann, gehören auch eine Vielfalt des Unterrichts und der Pädagogen zu „Basiskategorien eines inklusiven Unterrichts“, so Wocken.Länder ziehen nicht mitValentin Aichele leitet die unabhängige Monitoring-Stelle im Deutschen Institut für Menschenrechte, die den Auftrag hat, die Umsetzung der Konvention in Deutschland zu beaufsichtigen. Sie tut dies nach eigenem Bekunden „konstruktiv und kritisch“. Aichele sieht beim Bildungszugang nach einem Jahr einerseits, dass ein „beeindruckend dynamischer Prozess“ begonnen hat und erkennt bei einzelnen Bundesländern wie auch bei der Kultusministerkonferenz durchaus den Willen, Weichen zu stellen. Doch während Länder wie Rheinland-Pfalz in Kürze einen Aktionsplan vorstellen wollen, sieht der Menschenrechtsexperte auch, dass manche Länder bislang nicht besonders energisch mitziehen. Im kommenden Jahr muss Deutschland dem eigens eingerichteten UN-Behindertenrechtsausschuss berichten, ob die entscheidenden Schritte hin zu einem inklusiven Schulsystem hierzulande eingeleitet worden sind.Die Vision des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht-behinderten ist in vielen Ländern Europas längst verwirklicht. In Italien, Spanien, Norwegen und Schweden etwa gehen 95 Prozent aller beeinträchtigten Schüler in allgemeine Schulen. Nun wird auch in Deutschland die Konvention ein für allemal Schluss machen mit den Kämpfen von Eltern, die gegen den Widerstand von Schulbehörden ihr behindertes Kind auf eine Regelschule schicken wollen – wie zum Beispiel im baden-württembergischen Emmendingen, wo Eltern und Schule sich dieses Recht vor Gericht erstreiten mussten.Eltern sind aber auch häufig genug nicht sicher, ob ihr Kind auf einer allgemeinen Schule nicht „untergeht“, ob es dort nicht ausgegrenzt und genug gefördert wird. In Deutschland wird noch immer vielen Eltern empfohlen, ihr Kind auf eine „Förderschule“ zu geben, weil sie dort bessere Bedingungen vorfänden. „Schonraumfalle“ hat Hans Wocken diese Praxis schon vor vielen Jahren genannt.Eine Frage der RessourcenSibylle Hausmanns setzt sich seit vielen Jahren in der Elternorganisation „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“ für inklusiven Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern ein. Mit der UN-Konvention sei es keine „pädagogische Geschmacksfrage“ mehr, ob man ein Kind besser auf eine Förder- oder eine Regelschule schickt, sagt sie. „Es ist jetzt ein Frage von Menschenrechten geworden, die auch vom Ausland ganz anders beobachtet wird, seit die Behindertenrechtskonvention in Kraft ist.“ Die optimalen Bedingungen für ihre Förderung müssen an den allgemeinen Schulen geschaffen werden. Das ist auch eine Frage der Ressourcen.Allgemeine Schulen haben laut Konvention „angemessene Vorkehrungen“ für die Schüler zu treffen: ein besonderer Tisch, an den ein Rolli passt, Unterrichtsmaterialien in Braille-Schrift, Nachhilfe oder Assistenz. Sie brauchen pädagogisches Fachpersonal. Vor allem aber müssen sie lernen, mit den Kindern einen individuellen Umgang zu finden. Sie können sich an den vielen Schulen orientieren, die dies bereits seit Jahren praktizieren. Wie zum Beispiel die Erika-Mann-Grundschule im Berliner Bezirk Wedding, eine Kiez-Schule, die im vergangenen Jahr mit dem Jakob-Muth-Preis für inklusive Schule ausgezeichnet wurde. Der Schule gelingt es unter anderem über das Theaterspielen, das ein pädagogisches Zentrum bildet, mit 600 behinderten und nicht-behinderten Schülerinnen und Schülern aus 20 Nationen eine gemeinsame Sprache zu entwickeln.Das Deutsche Institut für Menschenrechte wird übrigens einen eigenständigen Bericht an den Fachausschuss der Vereinten Nationen verfassen, der vielleicht noch ein wenig kritischer ist als der regierungsamtliche. Noch geben die Verantwortlichen in Berlin nur Absichtserklärungen ab. Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag kündigt einen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention an. Hubert Hüppe, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung will die Teilhabe im Kindergarten, in der Schule, in der Berufsausbildung und am Arbeitsplatz „in den Mittelpunkt seiner Arbeit“ stellen. Laut UNO können mühelos 80 Prozent der behinderten Kinder an allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Doch für Deutschland scheint, das, was woanders selbstverständlich ist, trotzdem ein langer Weg und ein mühevoller Akt zu sein.