Vor wenigen Tagen erst durfte man Zeuge sein, wie vorzüglich Vorwarnsysteme in Europa funktionieren. Der herrschende Meinungskanon – besonders der in Deutschland – erinnerte Polen und Tschechien daran, über dem erfolgreichen Abschluss des START-Vertrages zwischen den USA und Russland nicht zu vergessen, wie sehr sie nach wie vor bedroht seien. Das Plazet aus Moskau, so hörte und las man, sei nicht zuletzt dem Verzicht auf den Aufbau einer US-Raketenabwehr in den beiden Staaten zu danken. Niemand möge ausblenden, welche Einbußen an Sicherheit damit für die beiden Ost-West-Pufferstaaten verbunden sein könnten.
Man fragt sich, wo bleibt solch zuverlässige Früherkennung von Gefahrenherden fürs europäische Geschick, wenn die nationalistische Flut im Osten des Kontinents derart steigt, das Staaten und Gesellschaften darin unterzugehen drohen oder bereits versunken sind. Jugoslawien ist das vor anderthalb Jahrzehnten widerfahren – Ungarn erlebt es im Augenblick, wen auch unter völlig anderen Vorzeichen und mit völlig anderen Konsequenzen. Der Wahlerfolg der Rechtskonservativen von der FIDESZ – die mit 53 Prozent zwar unter den prophezeiten 60 Prozent blieben, aber die absolute Mehrheit sicher haben – und der Rechtsaußen des antisemitischen Bündnisses für ein besseres Ungarn (Jobbik) verheißt mehr als einen Regierungswechsel. Es kommt einem Dammbruch gleich. Der Vormarsch der Vorzeit oder – besser: der Jetzt-Zeit – ins europäische Zivilisationsidyll!
Das von seiner aufklärerischen Mission so überzeugte EU-Europa wird sich entscheiden müssen, wie es mit dem Populismus des designierten Regierungschefs Viktor Orban, vor allem aber dem Vulgärradikalismus von Jobbik umgeht. Es wird kaum ausreichen, sich angewidert abzuwenden. Ratsam wäre es erst recht nicht, lockt doch der Blick ins eigene Spiegelbild. Führung und Anhang von FIDESZ, aber auch Jobbik sind nicht so epochenweit entfernt von jenem westeuropäischen Konservatismus, der seine erodierende Wählerschaft die gleichen Köder schlucken lässt wie Jobbik-Spitzenkandidat Gabor Vona. Auch in Frankreich, Belgien, den Niederlanden oder Österreich wird gern auf die Themen Einwanderung und Überfremdung zurückgegriffen und gefragt, wie lange müssen wir sie noch dulden – die islamischen Enklaven in unseren Gesellschaften? Sich darauf gründende Phobien sind in den genannten Ländern nicht weniger virulent als in Ungarn. Nur braucht sich dort der Rechtsextremismus kein postmodernes Gewand überzustreifen, wie es die Freiheitlichen in Österreich oder die Parteigänger von Geert Wilders und der Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden vorzüglich beherrschen. Die Ultras in Ungarn können sein, wie sie sind und sein wollen. Ihnen wird applaudiert, wenn sie die alten Feinde jagen – Juden, Sinti und Roma – und von Ghettos reden, als hätte es das Jahr 1945, die Ächtung der Pfeilkreuzler und des Horthy-Regimes nicht gegeben.
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