Pakistan Die Regierung ist vom Ausmaß der Flutkatastrophe überfordert. Nun verteilen moderate wie extremistische islamische Gruppen Hilfsgüter an die Menschen
An der Hilfsstation für Flutopfer, die neben einer vielbefahrenen Straße steht, scheint auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu sein. Aus großen Töpfen wird Essen an die Hungrigen verteilt. Ein Krankenwagen, der nicht länger benötigt wird, um Verletzte zu befördern, ist mit Kleiderbündeln beladen, die verteilt werden. Doch diese Hilfsstation am Stadtrand von Charsadda im Nordwesten Pakistans wird nicht von einer humanitären Organisation oder der Regierung betrieben, sondern von einer Gruppe mutmaßlicher Terroristen.
Jamaat-du-Dawa, eine islamistische Hardliner-Organisation, die vermutlich ein Deckmantel für die Gruppe Lashkar-e-Taiba ist, die für die Anschläge 2008 in Mumbai verantwortlich gemacht wird, hat nach eig
t nach eigenen Angaben 2.000 Helfer eingesetzt, die im Nordwesten des Landes und bis hinunter in die Provinz Punjab im Einsatz sind.Die Regierung ist vom Ausmaß der Katastrophe überwältigt, es ist die schlimmste Flut der vergangenen 80 Jahre. Und so ist eine Lücke entstanden, die von den gut-organisierten islamischen Gruppen, den moderaten und den extremistischen, gefüllt wird. In der Region, die von der Militanz und einer drohenden Übernahme durch die Taliban am stärksten betroffen ist, gelingt es ihnen so, die Menschen für sich zu gewinnen. Im überfluteten Nordwesten haben sich die Einheimischen bitter darüber beschwert, dass von Hilfe durch die Regierung so gut wie nichts zu sehen war. Die UN erklärte am Dienstag, dass drei Millionen Menschen von den Überschwemmungen betroffen seinen, die Zahl der Toten beläuft sich nach Angaben der Provinzverwaltung auf 1.500.Das Welternährungsprogramm schätzt, dass 1,8 Millionen Menschen dringend Wasser, Nahrung und Unterkunft benötigen. Inzwischen fürchtet man den Ausbruch von Seuchen wie Cholera, die durch das Wasser verursacht werden. In der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa wurden Häuser, Firmen und die Ernte weggespült. Straßen und Stromnetze sind kollabiert, 91 Brücken und 10.000 Stromleitungen sind von den Fluten eingerissen worden. Die steigenden Wasserpegel bedrohen Pakistans drittgrößten Staudamm, den Warsak, weshalb die Bewohner in den nördlich Vororten von Peshawar angewiesen wurden, ihre Häuser zu verlassen. Inzwischen reichen die Überschwemmungen weiter in den Süden des Landes hinein bis in die Provinz Punjab, wo die Fluten ganze Landstriche überschwemmen."Wo war die Regierung?An der Hilfsstation Hajji Makbool Shah gibt sich ein 55-jähriger Fluthelfer als Mitglied von Jamaat-du-Dawa zu erkennen. Die Verteilung der Hilfsgüter werde von der Unterorganisation Falah-e-Insaniyat organisiert, sagt er. „Würde die Regierung ihrer Aufgabe nachkommen, dann bräuchte man uns hier nicht“, meint er. „Als die Fluten kamen, haben wir die Menschen auf unseren Schultern getragen und zu unseren eigenen Krankenwagen gebracht. Wo waren die Krankenwagen der Regierung?“Auch Jamaat-du-Dawa-Sprecher Yaya Mujahid erklärt, dass die Gruppe mit Falah-e-Insaniyat zusammenarbeitet. „Wir sind vor Ort, um überall zu helfen, wo die Fluten angelangt sind“, so Mujahid.Lashkar-e-Taiba ist in Pakistan seit 2002 verboten, seither soll die Gruppe den Namen Jamaat-du-Dawa verwenden – auch wenn diese behaupten, keine Verbindungen zu Lashkar-e-Taiba zu unterhalten. Als David Cameron – nicht unumstritten – Pakistan vorwarf, es „exportiere den Terror“, war Jamaat-du-Dawa vermutlich eine der ersten Gruppen, die er im Sinn hatte. Ihr Status in Pakistan ist juristisch uneindeutig.Nach den Anschlägen von Mumbai, bei denen über 160 Menschen ums Leben kamen, beugte Pakistan sich dem internationalen Druck und einer UN-Resolution, die Jamaat-du-Dawa verbot, und ächtete die Gruppe. Doch Hafiz Saeed, der Vorsitzende der Organisation, legte dagegen einen Rechtsbehelf ein und argumentierte mit Erfolg, dass keine gerichtliche Verfügung erlassen worden sei. Jamaat-du-Dawa war auch nach dem massiven Erdbeben 2005 im Norden Pakistans aktiv gewesen und hatte internationale Anerkennung für die Arbeit dort erfahren. Im vergangenen Jahr kümmerte sie sich um die Vertriebenen aus dem Swat-Tal, die weichen mussten, als die Armee eine Operation startete, um die Gegend von den Taliban zurückzuerobern.Nicht weit von ihrer Hilfsstation entfernt hat eine andere islamische Gruppe, die legale Al-Khidmat Foundation, 380 Familien, die durch die Fluten alles verloren haben, in zwei privaten Schulgebäuden untergebracht. Al-Khidmat gehört zu Jamaat-e-Islami, einer fundamentalistischen Massenpartei. „Die Regierung ist wie gelähmt“, sagt Javed Khan, Vorsitzender der Ortsgruppe der Partei. „Die ganze Provinz leidet und die Behörden lassen sich nicht blicken.“Technik aus der KolonialzeitIm Inneren der Schule erzählt Naila Fazli Rabi, eine 18-Jährige, die hier untergekommen ist, dass das Wasser in der nahegelegenen Ortschaft Arbab Korna 3,60 Meter hoch stand und das Haus ihrer Familie wegspülte. „Al-Khidmat hilft uns, die Regierung hingegen hat uns nichts gegeben“, sagt sie. „Wir haben 3 Millionen Rupien (etwa 28.000 Euro) in das Haus gesteckt. Jetzt können wir nicht einmal davon träumen, es wieder aufzubauen. Ich habe noch nicht einmal 30 Rupien.“Kamran Rehman Khan von der Verwaltungsbehörde in Charsadda erklärte, allein von den 1,7 Millionen Menschen in seinem Distrikt seien rund 500.000 Menschen von der Flut betroffen. Er sagt, ihm sei nichts über die Aktivitäten von Falah-e-Insaniyat oder Jamaat-du-Dawa in der Region bekannt. „Ein Problem von solcher Tragweite wäre von keiner Regierung der Welt zu bewältigen“, meint Khan. Wir waren auf eine Katastrophe von diesem Ausmaß nicht vorbereitet.“Die britische Kolonialregierung habe in den Zwanzigern ein Stauwerk gebaut, so Khan, das knapp 5.000 Kubikmetern Wasser pro Sekunde halten kann. Doch mit der Flut stürzten rund 11.300 Kubikmeter pro Sekunde hinab und schwemmten die Tore des Leitwerks mit sich fort. „Wir haben uns auf die Technik der Briten verlassen, die auf die schlimmste Flut-Situation zugeschnitten war, aber sie hat uns im Stich gelassen“, meint der Verwaltungsbeamte.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.