Die Elsenstraße in Berlin. Vom Stadtbezirk Treptow läuft sie hinüber nach Neukölln. Wer sie geht, muss zunächst durch lautes Getriebe am Treptower S-Bahnhof hindurch, er lässt das sowjetische Ehrenmal links liegen, kommt vorbei an einem ehemaligen Kasernengelände, auf dem sich jetzt Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz verschanzt haben, unterquert eine Bahnlinie, die vor Zeiten zum Görlitzer Bahnhof führte, nun aber schon lang ohne Gleis und nur mehr ein schöner Fußweg ist, und gerät allmählich in ruhigere Gefilde. Es siedelt allerlei Gewerbe hier. Und es gibt zahlreiche Kneipen. Das eine hat mit dem andern zu tun. Wer feierabends durchs Werktor tritt, den plagt gelegentlich ein Durst. Dagegen helfen Schultheiss, Kindl ode
Politik : Bergwerk Berlin
Fluchthelfer buddeln nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 Tunnel von Neukölln nach Treptow. Einer führt vom Keller des „Heidelberger Krugs“ in den eines Fotoladens
Von
Karsten Laske
oder Engelhardt. Nun, letzteres Bier gibt es nicht mehr, der Betrieb wurde 1990 dicht gemacht, die Firma lag gar nicht weit von hier.Nach dem Krieg gehörte Treptow zur sowjetischen, Neukölln zur amerikanischen Zone. Sein Bier trank der Ostberliner zwar schon einige Jahre vor dem Mauerbau des Geldes wegen im Osten. Aber wer wollte, lief die Elsenstraße lang wie eh, er musste an der Demarkationslinie seinen Ausweis zeigen, sich vielleicht auch in Taschen oder Koffer gucken lassen, man stand unter militärischer Aufsicht. Doch noch war die Elsenstraße eine richtige Straße. Über Nacht war sie eine Sackgasse.Auf einem Foto von 1962 prangt an einer Eckkneipe die Engelhardt’sche Bierwerbung dreifach: zu beiden Seiten über den Fenstern und dazwischen über der Eingangstür. Das Foto wurde aus hoher Beobachter-Position aufgenommen, man blickt herab auf die Kreuzung Heidelberger und Elsenstraße. Gleich neben der Westberliner Kneipe, die damals Heidelberger Krug hieß, steht ein großes Schild, es ist nach Osten gerichtet. Deutsche, liest man, schießt nicht auf Eure Landsleute! Und direkt vor dem Schild, quer über die Elsenstraße hin, hart an der Kneipe vorbei und dann die Heidelberger Straße hinunter steht die Berliner Mauer. Die Straße gehörte in ganzer Breite nach Ostberlin, die Mauer war einige Meter zurückgesetzt darauf gebaut worden. Den Westberliner Anwohnern überließ man den Fußweg zu ihren Hauseingängen, Polizei und Feuerwehr durften den nicht betreten, er war DDR-Gebiet.Verkehrsaufkommen nur unter TageDie Mauer ist weg. Wo sie stand, liegt heute eine Doppelreihe Pflastersteine im Asphalt. Die Kneipe ist noch da. Sie nennt sich jetzt Restaurant Schweigel, Budike Destille – was irgendwie umständlich klingt. Es gibt zwar kein Engelhardt mehr, dafür eine ganze Reihe anderer Biere, der Besitzer kocht selbst, der Dart Club Treptow Rot Weiß bestreitet hier seine Heimspiele, und ein Plakat lädt zum traditionellen Fondue-Essen, allerdings ist der Termin schon fast vier Jahre her.Hier vor der Tür entsteht also nach dem 13. August 1961 die Mauer, hier wird alles dichtgemacht, die Elsenstraße verfällt zu beiden Seiten in Dornröschenschlaf. Äußerlich zumindest. Denn es herrscht ein gewisses Verkehrsaufkommen – unter Tage.Seit dem Jahreswechsel 61/62 wird gebuddelt. Vor allem der einstige Ostberliner Radrennfahrer Harry Seidel bewährt sich als Aktivist der ersten Stunde, ein Adolf Hennecke* der Fluchthilfe und des Untertagebaus in der geteilten Stadt. Er handelt im Gegensatz zu anderen Flucht-Profis aus Überzeugung und nimmt für sein Schleusen kein Geld. Sagt er. Einer seiner Mitstreiter, Heinz Jercha, wird im März 62 erschossen. Doch scheinbar unbeeindruckt geht das Buddeln weiter. Im Mai 62 graben Seidel und ein paar andere einen Tunnel vom Keller des Heidelberger Krugs hinüber in den Keller eines Fotogeschäfts. Der Westberliner Wirt stellt sein Bierlager zur Verfügung, der Fotograf im Osten ahnt nichts. Aus dem Kneipenkeller können die Maulwürfe – vom Osten aus nicht zu sehen – den Sand, den sie ausheben, über Hinterhöfe fortschaffen. Durch diesen „Pfingsttunnel“ fliehen im Juni angeblich mehr als 50 Personen. Die Story zur gelungenen Aktion erscheint pünktlich zum ersten Jahrestag des Mauerbaus in der Bild-Zeitung, für die exklusiven Fotos gibt’s 1.200 D-Mark obendrauf.Kratzen und SchabenDann vermittelt der westdeutsche Verfassungsschutz Kontakt zu FU-Studenten, die ebenfalls als Fluchthelfer tätig sind – und gerade eben durch die Interviews, die der Schriftsteller Uwe Johnson damals mit ihnen führte, noch einmal ins Feuilleton geraten sind. Die buddeln nun also auch mit. Ende 1962 wird Seidel gefasst. In der DDR verurteilt. Später vom Westen freigekauft.Fühlen sich die Sicherheits-Zuständigen in der DDR wie im eigenen, kafkaesken „Bau“? Sie hatten die Sache klug geplant, der Schlag hat gesessen, aber es rieselt im Gemäuer und irgendjemand schabt von irgendwoher. „Manche List ist so fein, dass sie sich selbst umbringt.“ – Nein. Dieses Gefühl kam später. Noch wird die Mauer stabiler, Fluchten werden immer schwieriger. Nur das unterirdische Kratzen und Schaben, es hört nicht auf.Und es ist nun auch die Stasi selbst, die gräbt. Bis dato werden entdeckte Ausstiege zubetoniert, die Tunnel von oben her aufgegraben, wo das geht – unter den Häusern natürlich nicht – und auch nur bis zur Grenze hin. Mit dieser Methode überlässt man dem Gegner wertvolles Terrain. Viele der schon entdeckten Tunnel werden von Westberlin aus reaktiviert. So kommt man in der DDR auf die pfiffige Idee und buddelt selbst: parallel zur Mauer. Ende Mai 1963 ist es geschafft. Durch die Heidelberger Straße zieht sich jetzt ein drei Meter breiter, zweieinhalb Meter tiefer Graben. Jeder Fluchttunnel muss zwangsläufig darin enden, ihn zu untergraben ist nicht möglich wegen des Grundwasserspiegels. Bis zum Mauerfall besteht dieser Auffang-Graben, er wird ständig kontrolliert.Mit sackender HoseUnd auch über Tage herrscht Betrieb. Am 17. April 1963 – noch bevor der Stasi-Graben fertig ist – entwendet der zivile NVA-Angestellte Wolfgang Engels in einer Kaserne einen Schützenpanzer, fährt 20 Minuten unbehelligt durch die Stadt und durchbricht in der Elsenstraße, genau an dieser Kreuzung, die Mauer. Wäre er drei Wochen später gefahren, läge sein SPW im tiefen Graben. So bleibt der „nur“ in der Mauer stecken. Engels wird beschossen. Nach drüben gezogen. Schwer verletzt erreicht er den Westen. Man schleppt ihn in den Heidelberger Krug. „Da gingen alle Rollläden runter“, erzählt er, „die Grenzer haben noch die Leuchtreklame zerschossen. Tja, und da war ich. Ich lag vorm Tresen. Dass ich im Westen war, konnte ich anhand der vielen Flaschen mit den bunten Etiketten hinter dem Tresen sehen.“ Dort betrinkt sich an jenem Abend ein Sparverein. Einer der Herren, „ein Opa, musste seinen Gürtel hergeben, um mir den Arm abzubinden. Und nun stand er da und hielt seine Hose, ich sah das so von unten, und wollte immer raus, um die ‚Zonen-Soldaten’ fertig zumachen, mit sackender Hose. – Und dann sahen sie, dass die Blutlache unter mir immer größer wurde.“ Die Rettungskräfte dürfen den Eingang zur Kneipe nicht passieren, weil der Fußweg ja zum Osten gehört. Sie nähern sich von hinten her. „Und als sie mich dann weggetragen haben, durch Wohnungen, von denen ich immer nur die Decken sah, dann übern Hof, wieder Wohnung, Hinterhof…“ Wolfgang Engels wird operiert und überlebt. Knapp zwei Jahre zuvor war er als junger Soldat nach Berlin zum Schutz des Mauerbaus befohlen worden. Jetzt hat er sie durchbrochen.Das berühmte Berliner Bauwerk steht, wie bekannt, noch eine längere Zeit. Die Holztürme des Anfangs werden durch Betontürme ersetzt, die Mauer selbst wird höher, „wartungsarm und formschön“. Das Kafka-Tier sitzt lauernd in seinem Bau, alle seine Gedanken sind auf den Feind gerichtet. Es sucht, den Plan des anderen, fremden Tiers zu enträtseln. Ohne Erfolg. Es horcht und wagt sich nicht mehr zu rühren. Seine Paranoia wächst.*Bergmann und Pionier der Aktivisten-Bewegung in der DDR