Gibt es einen Indikator langfristigen Fortschritts, so ist dies die Fähigkeit des Menschen, der Umwelt Energie zu entziehen und diese für seine Zwecke nutzbar zumachen. Mit der Beherrschung des Feuers verabschiedete sich das Menschengeschlecht endgültig von seinen tierischen Artgenossen, und der Zugriff auf fossile Energie war die Voraussetzung für die industrielle Revolution. Je mehr Energie verfügbar war, desto bequemer und angenehmer wurde das Leben. Und es wurde zugleich sicherer, denn je mehr Energie man bevorraten konnte, desto unabhängiger wurde man gegenüber dem Wechsel der Jahreszeiten und den „Launen der Natur“. Durch Bevorratung versetzte sich der Mensch in die Lage, auf Energie zugreifen zu können, wann er wollte, unabhän
8;ngig davon, wann die Natur – in der Zeit der Schneeschmelze, der Passatwinde oder wann auch immer – ihm diese Energie anbot. Der Zugriff auf Energie erhöht beides: Sicherheit und Freiheit.Aber der verbesserte Zugriff auf Energie brachte auch Gefahren mit sich: Wer das Feuer in die Höhle holte, lief Gefahr, am Qualm zu ersticken, und wer die Höhle durch eine Hütte mit Rauchfang und Kamin ersetzte, riskierte Funkenflug, der die Behausung in Brand setzte. Je mehr Energie man der Umwelt entzog, desto aufwändigere Maßnahmen wurden erforderlich, um sie zu bändigen und zu kontrollieren. Die Verfügbarmachung von Energie hatte von Anfang an zur Folge, dass sich zwei Techniken balancierten: die des Entzugs von Energie aus der menschlichen Umwelt und die ihrer Kontrolle und Beherrschung in der Welt des Menschen.Verschobener GrundkonsensDiese Balance war nicht immer exakt austariert, und bei den großen technologischen Entwicklungssprüngen ging die Technik des Energieentzugs voran, ohne dass die Technik der Energiebeherrschung hätte Schritt halten können. Aber dann holte das Sicherheitsbedürfnis einer Gesellschaft deren Risikobereitschaft wieder ein, wobei häufig Katastrophen dafür sorgten, dass sich die Risikobereitschaft nicht zu weit vom Sicherheitsbedürfnis entfernte. In diesem Sinne sind Katastrophen nicht bloß Unfälle, bei denen technische Vorrichtungen zerstört und Menschen getötet werden, sondern immer auch Stimulatoren von Lernprozessen, in denen gar zu optimistische Annahmen über die Beherrschbarkeit der Umwelt korrigiert werden.In solch einer Situation befinden wir uns jetzt, da die Katastrophe der japanischen Nukleartechnologie offenlegt, dass die Berechnungen des so genannten Restrisikos und die Annahmen über seine Beherrschbarkeit viel zu optimistisch waren. Im Gefolge solcher Katastrophen, so eine verbreitete Formulierung, verschiebt sich der gesellschaftliche Grundkonsens von der Risikobereitschaft zum Sicherheitsbedürfnis. Diese Formel fasst als Resultat zusammen, was sich in unzähligen Diskursen und Prozessen innerhalb einer Gesellschaft abspielt. Tatsächlich setzt sich ja nicht die Gesellschaft an einen runden Tisch und debattiert, wie es weitergehen soll, sondern das tun Avantgarden und Eliten, Spezialisten der Technik, Sinndeuter und Kontrolleure von Wirtschaftsprozessen. Dabei bringen die einen Interessen, die anderen Bedenken ein. Die einen argumentieren mit Chancen, die anderen verweisen auf Risiken. Wahrnehmung und Bewertung der Gefahren und Risiken von technologischen Entwicklungssprüngen (aber auch deren Unterlassung) sind unter den Spezialisten ungleich verteilt. Technische Eliten sehen vor allem die Chancen, administrative Eliten auch die Risiken, Deutungseliten, die entgegen einem verbreiteten Selbstmissverständis zumeist konservativ sind, stellen vor allem die Gefahren heraus.In gesellschaftstheoretischer Perspektive sind Katastrophen vor allem eines: Veränderungen in den Glaubwürdigkeitsansprüchen dieser drei Gruppen. Technische Eliten sind dabei die notorischen Avantgarden, die, mögen sie politisch noch so konservativ sein, unausgesetzt an der grundstürzenden Veränderung der Gesellschaft arbeiten. Sie tun dies, um mit Schopenhauer zu sprechen, in einem „ruchlosen Optimismus“ hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zur Beherrschung der Kräfte, mit denen sie hantieren. Die Unbeherrschbarkeit der Natur ist für sie eine zu reduzierende Restgröße. Im Begriff des Restrisikos kommt das prägnant zum Ausdruck.Dagegen schätzen die Deutungseliten, weil sie die Welt bloß verschieden interpretieren, aber nur selten verändern, die Unbeherrschbarkeit der Natur notorisch hoch ein. Katastrophen geben den Deutungseliten gegenüber den technologischen Avantgarden recht. Sie verändern die Glaubwürdigkeitsverhältnisse und damit den Einfluss der konkurrierenden Eliten auf die Gesellschaft. Katastrophen korrigieren die Ergebnisse der längeren Zeiträume von „Normalität“. Sie sind Aufhalter des Fortschreitens auf einem einmal eingeschlagenen Weg. Aber die „Lehre“ der Katastrophen hält nicht ewig vor: Es ist das Streben der Gesellschaft nach Wohlergehen und Bequemlichkeit, das nach einiger Zeit wieder den technologischen Eliten das Sagen gibt. Daran wird auch die Katastrophe in Japan nichts ändern.