Für die Welt, die ihn nicht persönlich kennt, ist Shingo Kanno einer der „Atom-Samurai“ – ein selbstloser Held, der versucht, sein Land vor einer Katastrophe zu bewahren. Für seine Familie ist Kanno ein junger Vater, dessen Leben nun in Gefahr ist, nur weil er sich mit Hilfsarbeiten im Atomreaktor von Fukushima ein wenig Geld hinzuverdienen wollte. Als Tabakbauer hatte Kanno eigentlich nichts in einem Atomkraftwerk zu suchen, erst recht nicht in einer so ernsten Situation, wie sie sich seit dem Erdbeben am elften März dort entwickelt hat. Sein Großonkel Masao Kanno sagt: „Die Leute nennen sie Atom-Samurai, weil sie ihr Leben opfern, um ein Leck zu stopfen. Aber Leute wie Shingo sind Amateure: Sie können nicht wirklich helfen. Das sollte
Politik : Japans Atom-Samurai
Um die Fukushima 50 ranken sich immer abgründigere Mythen. Suzanne Goldenberg traf in Yonezawa Angehörige eines Zeitarbeiters, der zurückging, um den GAU zu bekämpfen
Übersetzung: Holger Hutt
lten nicht Leute wie er machen.“Gefährliche NäheMasao Kanno ist einer von 500 Menschen, die ihr Lager auf dem harten Holzboden des Sportzentrums von Yonezawa aufgeschlagen haben. Die meisten von ihnen sind innerhalb der Evakuierungszone zuhause. Sie und viele ihrer Familienangehörigen haben in der Anlage gearbeitet oder sind jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit oder Schule an ihr vorbeigefahren. Vor der Katastrophe haben sie sich keine Gedanken über die Nachteile dieser Nähe gemacht, nun bestimmt sie ihr Leben: Inzwischen ist die radioaktive Strahlung dort 17 Mal höher als der Normalwert und das Leitungswasser ist so kontaminiert ist, dass man es nicht mehr trinken kann.Wer wie Masao Kanno persönlich von der Krise persönlich betroffen ist, der ist dankbar für den Mut der ungefähr 500 Arbeiter, die immer noch in der Anlage ausharren. Wo Japans Premierminister und andere aber Nationalhelden aufbauen, sieht er das Schicksal eines Verwandten. Sein Großneffe Shingo Kanno war für Bauarbeiten angestellt gewesen und wurde unmittelbar nachdem der atomare Notfall ausgerufen wurde freigestellt. Als die Krise sich zuspitzte, weitete die Regierung das Evakuierungsgebiet aus und Shingo brachte seine Frau und seine kleine Tochter zu seinen Schwiegereltern in Sicherheit. Er half auch dabei, entferntere Familienangehörige aus ihren Wohnungen in der Stadt Minamisoma zu evakuieren, die in der 30-Kilometer Sperrzone liegt, und in das Sportzentrum und andere Notunterkünfte zu bringen. Dann, so erzählen seine Angehörigen, habe er einen Anruf aus dem Kraftwerk bekommen und sei gefragt worden, ob er zurückkomme. Sie alle versuchten ihn reihum am Telefon davon abzuhalten und erinnerten ihn daran, dass er Bauer und kein Atom-Ingenieur sei – er habe nicht die Kenntnisse Fertigkeiten, die eine solch komplizierte Krise erforderten. Er solle an seine Verantwortung für seine Eltern und seine kleine Tochter denken. "Ich habe ihm gesagt: "Du solltest nicht an die Firma denken, sondern an deine eigene Familie"", erzählt sein Großonkel Masao Kanno. Doch am Freitag ging Kanno nichtsdestotrotz zurück. Seine Familie hat seitdem nichts mehr von ihm gehört.In der Zwischenzeit hat der Kult um die Nuklear-Samurai weiter zugenommen. Das japanische Fernsehen strahlte am Montag ein Interview mit einem Arbeiter in der Anlage aus, in welchem dieser einen erschütternden Insider-Bericht über den Kampf um die Reaktoren gab. Mit unkenntlich gemachtem Gesicht beschrieb er das Dröhnen der Sirenen, den wabernden Rauch und Explosionen, die so stark waren, dass sie die Erde erschütterten. Dann sprach er kurz über seine eigene schwierige Gefühlslage, bevor er sich aus der zurückgezogen hatte. „Die Leute, die zurückgeblieben sind – sie tun mir wirklich leid. Es war eine schwierige Entscheidung, aber ich wollte unbedingt raus.“Derartige Szenen lösen in dem Sportzentrum starke Emotionen aus. Die Evakuierten denken neu über ihre Beziehung zu der Anlage in Fukushima nach. „Ich denke, man kann sagen, dass diese Arbeiter einer Gehirnwäsche unterzogen wurden“, sagt Keiichi Yamomoto, der aus beruflichen Gründen regelmäßig in dem AKW zu tun hatte. „Japaner sind es gewohnt, ihr ganzes Leben auf ihre Firma auszurichten. Die Firma wird wichtiger als ihr eigenes Leben.“ Die Energiekonzerne würden die Atomkraftwerke in dünn besiedelten Gegenden mit wenig Industrie bauen. Leute aus der Gegend bekamen Jobs, der Energiekonzern wiederum konnte seine Stromproduktion für Tokio erhöhen. Die Regierung genehmigte die Anlage In Fukushima, die Präfektur stimmte zu, selbst die Menschen vor Ort waren einverstanden, als sie Anstellungen als Kontrolleure bekamen, so Yamomoto: „Es war ein Tauschgeschäft.“ Nun sind sie mit den negativen Konsequenzen dieses Geschäftes konfrontiert. Menschen, die ihr Leben um das Atomkraftwerk herum aufgebaut haben, ohne sich jemals endgültig klar gemacht zu haben, was da in ihrer Nachbarschaft steht, abonnieren jetzt SMS-Updates über die aktuelle Strahlenbelastung in ihren Heimatstädten.Einige sagen, sie vertrauten den Informationen des Betreibers nicht und würden erst wieder zurückgehen, wenn die Regierung ihr OK gegeben habe. Andere fragen sich, ob sie nicht auch irgendwie mitschuldig an der Katastrophe sind. Yoshizo Endo zog 1970 in die Nähe des Kraftwerks, als er einer der ersten Arbeiter in dem damals neu eröffneten Kraftwerk in Fukushima wurde. Er arbeitete über 20 Jahre als Kontrolleur, in denen er regelmäßig Sicherheitsübungen mitmachen musste: Feueralarm, Evakuierungsübungen für den Fall eines Erbebens. Aber, sagt er, sie hätten nie die Möglichkeit eines atomaren Störfalls ins Auge gefasst. „Im Nachhinein ist es einfach zu sagen, wir hätten daran denken müssen.“ Seine Frau Tori sagt, die Krisensituation in der Anlage und der Kampf der Arbeiter bedrückten sie sehr: Ihr Mann hatte in dem AKW jahrelang gut verdient und leben heute von seiner Rente. „Ich fühle mich schuldig“; sagt sie.Hätte man Eno angerufen, wäre auch er gegangen, wenngleich als Teil eines Teams, so sagt er. Dabei fügt er hinzu: „Ich kann in solch einer Situation wirklich überhaupt nichts tun. Ich weiß lediglich, wie man ein Thermometer hält.“ Glaubt er, die Nuklear-Samurai werden es schaffen, die Reaktoren unter Kontrolle zu bringen? „Es kommt, wie es kommt“, antwortet Endo.