Koalitionsdebatten sind erstens langweilig, zweitens lenken sie vom Inhalt ab, und drittens ist beides natürlich blanker Unsinn. Das öffentliche Reden über Bündnisoptionen ist zur gängigen Methode des politischen Geländegewinns geworden, dies hat das Publikum durchaus begriffen. Ja: Die Perspektive ist verkürzt, das Machtkalkül springt durch alle Ritzen. Aber das ist auch sonst auf der politischen Bühne nicht anders. Und wenn die Darsteller mal wieder bierernst behaupten, es gehe in der Politik überhaupt gar nicht um Taktik oder strategische Aufstellungen, dann lächelt man in den Rängen wie über einen liebgewordenen, aber nicht mehr so recht zündenden Witz. Wer wirklich Interesse an Inhalten hat, an nachhaltiger und tiefgründiger Diskussion – würde der sich in die erste Reihe einer Partei stellen?
Manchmal rückt dorthin jemand nach wie jetzt der erste grüne Ministerpräsident. Winfried Kretschmann hat die Kanzlerin gelobt und einen Zusammenhang neu geknüpft, der im vergangenen Jahr zerrissen war: Atomausstieg und potenzielle CDU-Partnerschaft. Das tat er nicht zur Freude aller, im Gegenteil. Realos wie Parteilinke, Sozialdemokraten wie CDU-Politiker hatten jeder für sich einen Grund, die Dehnübungen des Stuttgarter Grünen zurückzuweisen. Wird zu viel Freundlichkeit gegenüber der Union womöglich den Berliner Wahlerfolg im Herbst gefährden? Steckt nicht hinter Kretschmanns Worten der Versuch, die Machtverhältnisse innerhalb der Grünen neu zu justieren? Verabschiedet sich die Partei womöglich wieder von der privilegierten Partnerschaft mit der SPD, die doch erst im vergangenen Jahr erneuert wurde? Oder versucht Kretschmann mit seiner Umarmung nicht bloß, die Saat des Strömungsstreits in die Union zu tragen?
Es sind dies letztlich Variationen, Ableitungen eines viel grundsätzlicheren Gedankens von Kretschmann – er bringt die Rede auf einen neuen Mentalitätswechsel der Grünen. Das ist nun wahrlich mehr als die Frage, ob die Naturwissenschaftler Kretschmann und Merkel auf gemeinsamer Wellenlänge ticken oder vielleicht Volker Kauder und Claudia Roth nicht zusammenpassen. Und dass der neue Ministerpräsident das starke Wort vom Mentalitätswechsel gerade jetzt in die Runde wirft, ist wohl überlegt: Mit dem Atomausstieg wird ein Gründungsversprechen der Grünen eingelöst, es steht dann nicht mehr als „Gen“ (Cem Özdemir) zur Verfügung.
Vom Protest zum Regieren, vom Frieden zum Krieg, vom Atomausstieg wohin? Nicht nur als zufälliges Beispiel hat Kretschmann die Innere Sicherheit angesprochen, bei der es sich die Grünen „lange etwas zu einfach gemacht“ hätten. Auch der Südwest-Realo Boris Palmer stieß bereits ins Horn einer „thematischen Verbreiterung“ auf das „Feld von Sicherheit und Ordnung“. Und auch im Berliner Abgeordnetenhaus hört man seit einiger Zeit, wie stromlinienförmig die Grünen diese Agenda bespielen können. Dass sich dieses ureigene Unionsthema als kollektives Dispositiv einer ehemals alternativen Bürgerrechtspartei nicht eignet – damit sollte man nach den Erfahrungen der bisherigen Häutungen der Grünen ebenso vorsichtig sein wie mit dem Hinweis, Kretschmann repräsentiere eine Minderheit. An den „wichtigen Wegmarken“ der Vergangenheit, von denen der schwarze Grüne spricht, ist die Partei, geführt von Minderheiten, immer wieder einmal in entgegengesetzte Richtung abgebogen.