Es grünt so grün im Messezelt

Ernährung Auf der größten Lebensmittelausstellung der Welt ist alles lecker und nachhaltig. Um die reale Verfasstheit des Grundbedürfnisses Essen ist es dagegen schlecht bestellt

Hermann Höcherl, der hatte es noch gut: Als der CSU-Landwirtschaftsminister 1967 von Bonn nach Berlin zur Grünen Woche reiste, saßen ihm bloß die tobenden Bauern im Nacken. Die wollten Subventionen und drohten mit der NPD. Aber auf der Messe floss der Schnaps. Höcherls Ausweg hieß Betäubung. Dann flog er wieder ab.

Das Los der Ilse Aigner ist weit schwerer: In einen Flieger flüchten kann sie nicht. Auf der Grünen Woche gibt es heuer eher Saft als Schnäpse. Und wenn sich die Amtierende in dieser Woche durch die größte, älteste und medial am meisten beachtete Lebensmittelschau des Landes zwangsprobekostet, werden draußen nicht nur Bauern stehen. Mit ihnen demonstriert eine viel größere Wählerschar von Verbrauchern, zum zweiten Mal in Folge und wieder unter dem Motto „Wir haben es satt“. Befeuert vom jüngsten Skandal um resistente Keime auf Hühnchen, noch immer erbost über das, was die Nahrungsindustrie seit BSE an Ärgernis geboten hat, wird nun gegen Agrarfabriken protestiert, gegen Dioxin im Tierfutter, gegen den heillosen Antibiotikaeinsatz in der Tiermast, gegen irreführenden und betrügerischen Etikettenschwindel, gegen die Überproduktion, gegen den Wegwerfwahnsinn, gegen Agrarspekulationen von Banken, gegen Ausbeutung von Erntehelfern, gegen Welthunger durch Preiskartelle und Biosprit – und gegen die Gentechnik natürlich. Gegen alles eigentlich, was der modernen Lebensmittelproduktion heute anhaftet und was sie als Stiller eines Grundbedürfnisses in weiten Teilen völlig inakzeptabel macht. Wovon drinnen, in der Messehalle, so natürlich keiner etwas wissen will.

In jedem Problem steckt eine marketingstrategische Herausforderung. Und ja, die Grüne Woche müht sich sehr, den Fordernissen einer nachhaltigen Esskultur gerecht zu werden. Sie inszeniert Ernährung so, wie sie sich der Verbraucher wünscht: liebevoll, ökologisch, regional, verantwortungsbewusst, gesund und sicher. Mit gutem Fleisch, Biogemüse, Landbrot und Bauernmilch. Wogegen auch nichts einzuwenden wäre.

Nur führt den neuen hohen Anspruch einer ökologisch verträglichen, ressourcenschonenden Ernährung nicht allein die produktionsbedingte Realität ad absurdum. Er ist, in Umkehr des schlichten Nachkriegsziels, der Bevölkerung viel Nahrung zu kleinen Preisen zu verschaffen, schlimmer: Gutes Essen, so, wie es die Politik heute so gerne in den Einkaufskörben der Verbraucher sähe, setzt Bildung voraus und kostet vor allem Geld. Und zwar soviel, dass es nicht allen Arbeitnehmern zugänglich ist. Erst recht nicht Hartz-IV-Empfängern. Was dazu führt, dass es jenseits der ge­hobenen Milieus Ernährungsklassen gibt, die meistens oder immer industriell erzeugtes Billig- statt Bio-Essen kaufen.

Davon lebt die Lebensmittelindustrie. Und davon wird sie leben, samt Skandalen, Betrügereien, Umweltproblemen und Ausbeutungen, bis die große Mehrheit der Verbraucher in die Lage versetzt wird, sich die Wahl zu leisten. Es ist dies eine Dimension, die keineswegs übertrieben ist, sondern der aktuellen Verfasstheit unseres Staates und seiner Gesellschaftsform entspricht. Zu lösen ist das nicht durch ein neues Antibiotikarecht. Aber soziale Gerechtigkeit und Bildung? Keine Ernährungsthemen. Noch immer nicht.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

Kathrin Zinkant

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