Die Polizei besetzt mit ihren Spezialeinheiten nach und nach die Armenviertel von Rio de Janeiro, um sie mit der „Operation Friedensschock“ von der Mafia zu befreien
Die Rocinha ist ein Labyrinth aus Gängen, manchmal tunnelartigen Wegen, Treppen und Häusern, die wie bei einem Abenteuerspielplatz verwoben sind. Wer diese Favela nicht kennt, verläuft sich unwiderruflich. In einer schmalen Gasse tropft Wasser von Stromkabeln herab, die wie ein schwarzes Wollknäuel zusammengeballt in alle Richtungen weisen. Unten strebt ein Rinnsal durch Dreck und Hundekot.
Rita sitzt verdutzt auf der Schwelle ihres Hauses. Hinter ihr läuft der Fernsehapparat, in grünen Hawaianas-Latschen streckt sie ihre Füße vor. Der Durchgang vor der Haustür ist gerade so breit, das zwei Personen aneinander vorbeikommen. Heute drängeln sich hier Jogger zuhauf. Die 63-Jährige staunt über Menschen, die sie in ihrem Quartier
Quartier noch nie gesehen hat. Es sind Brasilianer, die ihrerseits eine Favela und Frauen wie Rita noch nie gesehen haben. Armenviertel sind ihnen bestenfalls aus den Skandalnachrichten im Fernsehen bekannt. Und nun rennen sie für den Frieden und gegen den Krieg um Drogen. Noch vor kurzen hätten diese Jogger keinen Fuß in eine solche Gegend gesetzt, doch die Rocinha wurde von der Polizei eingenommen und gesäubert. An allen Ecken stehen Posten mit Gewehren, um die Sportler zu schützen.Nem wollte nichtEnde 2011 besetzten die Bopes – die Batalhão de Operações Policiais Especiais – die Rocinha, um dafür zu sorgen, dass die Favelas von Rio bei der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016 keine gefährlichen Orte mehr sind. Die Rocinha ist inzwischen der 19. Bezirk, der wieder unter staatlicher Obhut steht. Lange galten diese Viertel als rechtsfreie Räume und wurden von Drogenbossen und deren Helfern regiert. Wer einen Laden oder ein Bistro eröffnen wollte, musste sich das von der Mafia genehmigen lassen. So gut wie niemand zahlte für Wasser, Strom oder Telefon. An den Zugängen zur Favela saßen zumeist die jungen Mitglieder der Gangs mit ihren Waffen, nicht selten waren es Maschinengewehre. Nach der offiziellen Statistik lebten 2010 etwa 70.000 Menschen in dieser Favela. Doch halten das unabhängige Organisationen für untertrieben – es seien wohl eher 150.000.Als die Polizei vor Wochen kam und blieb, gab es für die Stadt in der Stadt eine friedliche Besetzung – eben eine Operation Friedensschock, wie die Aktion hieß. Man hatte die Einnahme des Viertels angekündigt und damit nicht nur Bewohner, sondern auch Bandenmitglieder informiert. Manchen ließ das vorab die Flucht ergreifen. Bereits drei Tage vor der Besetzung wurde der Drogen- und Favela-Chef Antônio Francisco Bonfim Lopes, genannt Nem, gefasst.Seither verteilt die Polizei eifrig Flugblätter mit dem Aufruf, untergetauchte Kriminelle zu melden. Aus Lautsprecherboxen, die auf Autos gespannt sind, dröhnt in Endlosschleife die Bitte um Beistand im Kampf gegen die Unterwelt. Die Stimme donnert aufklärerisch: „Wir leben jetzt im Frieden, das ist die neue Zeit des Friedens. Der Krieg ist vorbei.“ Stundenlang werden die Bewohner mit Appellen zur Versöhnung berieselt, als müssten sie zu einem neuen Leben erweckt werden. Ein Teil der Alteingesessenen in der Rocinha sympathisiert weiter mit dem Patriarchen Nem, als säße der nicht in seiner Zelle. Er habe sich für die Gemeinschaft eingesetzt, sagen viele. „Er wird für das bezahlen, was er getan hat”, meint Alexandre, ein Junge aus der Rocinha, „doch eigentlich war er ein Guter. Die Menschen hier mochten ihn. Deswegen wurde bei seiner Festnahme nicht geschossen. Nem wollte nicht, dass den Leuten etwas passiert.“Auch wenn die Rocinha über Frisöre, Banken, Läden und kleine Restaurants verfügt, ist die Armut offensichtlich und erschreckend. Neben dem Valão, der offenen Kanalisation, stehen vier Jungen nackt unter einer Freiluftdusche, mitten auf dem Gehweg. Gegenüber sitzt eine Gruppe johlender Männer, die das Bier aus Plastikbechern sichtlich genießen. Dazwischen immer wieder Abfall und Dreck. Investitionen für den Straßenbau und eine Reinigungskampagne sind angekündigt, Elektriker sollen für Licht sorgen, Müllmänner die Kloaken leeren. Die Favela wird ein Bürgerlokal erhalten, dazu eine Kantine für die Bevölkerung. Die Operation Friedensschock geht weiter und klingt nach Beschwörung und Beschwichtigung gleichermaßen.Vorbilder für befriedete Favelas gibt es einige. Das Quartier Dona Marta etwa, ein kleines Viertel mitten in Rio, war 2008 das erste von der Polizei zurückeroberte Terrain. Es wurde nicht nur zum Drehort für den Film Tropa de Elite 2, sondern erhielt Besuch von Prominenten wie Barack Obama oder Madonna. Auch hohe Beamte ausländischer Sicherheitsdienste holten sich Anregungen, wie prekäre Milieus, in denen kriminelle Energie das Überleben sichert, nicht aufgegeben werden.Heute steigen sogar mitunter Touristen die dreckigen Stufen hinauf nach Dona Marta, um die Befriedung in Augenschein zu nehmen und sich in kleinen Läden zu verproviantieren. Drogen gibt es hier allerdings weiterhin und ausreichend. Korrupte Cops, die mit Dealern paktieren, geraten häufig in die Schlagzeilen. Die Polizei selbst räumt ein, den Rauschgifthandel nicht wirklich trocken legen zu können. Zudem sind längst nicht alle Favelas staatlicher Ordnungsliebe ausgesetzt. Und aus den „nicht besetzten“ kommt der Nachschub.Drei Monate nach der Besetzung durch die Polizei sagen viele Bewohner: „Es ist gut so, wie es ist.“ Sie sagen das leise, als hätten sie Angst, die ehemaligen Herren des Viertels würden mithören. „Es gibt einige, die meinen, nach der Weltmeisterschaft ist alles vorbei, da wird es so wie früher sein“, sagt Valdette Danassa, die eine Drogerie führt und seit acht Jahren in der Rocinha lebt. Von den Drogenhändlern habe sie früher nicht wirklich etwas mitbekommen. Dass der eine oder andere mal bei ihr einkaufen ging, ja sicher. Jetzt sehe man dagegen ständig die Patrouillen der Polizei. „Es gibt Leute, die sich bei denen beschweren, wenn Probleme auftauchen“, meint die 34-Jährige. „Früher gab es das nicht. Da hat es kaum jemand gewagt, den Boss mit seinem Kram zu behelligen.“Kugelsichere WestenDie neue Ordnung beschert neue Regeln: Die Stromfirmen sind die ersten, die durch die Favelas ziehen, um ihre zahlungssäumige Kundschaft aufzusuchen, die das Elektrizitätsnetz illegal angezapft hat. Auch die Immobilienpreise steigen. 400 Reais (etwa 175 Euro) hat Valdette Danassa bisher für ihre Wohnung an Miete gezahlt. „Hier öffnet eine Bankfiliale, dort ein Laden, dort sonst was. Wenn es ruhig bleibt, werden mehr Leute herziehen. Da wird es teurer.“Am Tag der Besetzung der Rocinha hatten sich Politiker wie Sérgio Cabral, der Gouverneur von Rio, und sein Sicherheitschef José Mariano Beltrame vor den Kameras gezeigt und von einem „historischen Erfolg“ gesprochen. In den Gassen des Viertels geben sich die Bewohner weniger euphorisch. Leonardo Rodrigues, Präsident des Vereins der Favela-Bewohner, meint: „Jetzt brauchen wir die Politik, die sich für Gesundheitsfürsorge und Bildung einsetzt. Wenn es der Staat nicht schafft, seinen Versprechen nachzukommen, wird die Stimmung umschlagen. Und das heftig.“Nach der Eliteeinheit Bopes sind nun „Friedenspolizisten“ aus den Unidades de Polícia Pacificadora in der Favela stationiert – Sozialarbeiter mit Polizeifunktion, die dafür sorgen sollen, dass die Leute ihre Abneigung gegenüber der Polizei verlieren. „An die Jugendlichen heranzukommen, die früher zu den Banden gehörten, ist schwierig“, erzählt ein Polizeioffizier. „Ohne den Drogenhandel sind sie ohne Job. Würden sie mit uns kooperieren, wären sie umgehend als Verräter abgestempelt.“ Was das bedeuten kann, liegt auf der Hand.„Bald gibt es hier Franzosen, Engländer, Amerikaner und Deutsche, die sich das ansehen wollen“, schwärmt Sergeant Anizio, das Gewehr griffbereit neben sich. Leider verschwinde die Schattenwelt nicht über Nacht. Viele der auf etwas mehr als 400 geschätzten Bandenmitglieder lebten noch irgendwo in der Rocinha. Nicht alle seien abgewandert. „Täglich nimmt die Polizei Mitläufer fest, sammelt Waffen und Drogen ein.“ Kiloweise würden Kokain und Marihuana sichergestellt, dazu Säcke voller Munition, Gewehre, Pistolen, selbstgebastelte Granaten und kugelsichere Westen.Der „Lauf für den Frieden“ in der Rocinha sollte deshalb ein Hoffnungszeichen setzen, auch wenn er keinen Alltag symbolisiert. Nach der Siegerehrung, bei der alle Teilnehmer Medaillen erhielten, zerstreuten sich die Läufer schnell. Die einen steuerten ihre Häuser in der Favela an, die anderen stiegen in ihre Autos und fuhren in die Viertel der Gutverdiener zurück.