Es kursieren Gerüchte, schon bald könnte ein drittes Hilfspaket für Athen nötig sein. Wie konnte ein Land unter den Augen der europäischen Gemeinschaft derart abstürzen?
Wenn die 47-jährige Katerina Roussous über das Leben ihrer Eltern nachdenkt, kommen ihr Mühsal und Entbehrungen in den Sinn. Begriffe, die so gar nichts zu tun haben mit ihrem Leben, in dem es stetig aufwärtsging: Studium, Heirat, Kinder, ein gutes Einkommen, eine unkündbare Stelle. Katerina ist Religionslehrerin an einem Gymnasium in der Kleinstadt Aliveri auf Euböa. Auch ihr Ehemann Kostas (52) hat eine sichere Anstellung, er arbeitet bei der staatlichen Stromgesellschaft DEI.
Der Staat war bisher einer der größten Arbeitgeber Griechenlands, ein Garant für wachsende Gehälter, Renten und manche Vergünstigung. Mit ihm schloss man den Bund fürs Leben. In den besten Jahren verdienten Katerina und Kostas 100.000 Euro, inklusive der Bo
ive der Boni, die an die Mitarbeiter des Stromkonzerns gezahlt wurden. Den Griechen ging es noch vor Jahren so gut wie nie. Der Privatkonsum florierte. Darlehen waren billig und so einfach zu haben wie Retsina im Supermarkt. 2006 nahmen die Roussous einen Kredit auf: 131.000 Euro für den Bau eines Hauses in Aliveri. Im Oktober 2009 allerdings verkündete die neue Regierung unter Premier Giorgios Papandreou, es gäbe ein Haushaltsdefizit von über zwölf Prozent. Erste Ratingagenturen stuften das Land herab. Der Staat taumelte und riss Katerina und Kostas mit sich.Plötzlich hatte der Bund fürs Leben ausgesorgt. Die Gehälter der Roussous wurden um bis zu 35 Prozent gekürzt, sämtliche Boni gestrichen. Mit dem Hausbau war es vorbei, doch die Ratenzahlungen an die Bank – 770 Euro im Monat – blieben bestehen, ebenso die Kosten für das Studium der beiden Söhne: 1.400 Euro monatlich. Katerina und Kostas sind seither trotz allem sozial nicht abgestürzt, ihr drastisch gesunkenes Einkommen verschmerzen sie zähneknirschend. Was sie nicht verwinden können, ist der Zusammenbruch ihres Weltbilds. „Wir wurden belogen und verraten“, klagt Katerina Roussous. „Mein Stolz, Griechin zu sein, ist gebrochen.“Ein anderer Fall: Thanasis Vassilenas (47) erreichten die Folgen der Schuldenkrise Ende 2011. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Paris und arbeitete seit 1997 als Planungschef beim National Accreditation Centre in Athen, einer staatlichen, mit EU-Geldern geförderten Behörde, die Berufsschulen und private Hochschulen zertifiziert. Für Thanasis Vassilenas begann die beste Zeit seines Lebens, wie er heute sagt. Er verdiente 3.800 Euro netto, seine Frau Angeliki als Soziologin im Gesundheitsministerium 1.400. Ihre Stellen schienen sicher. Den Vassilenas zeigte sich das Leben von seiner Schokoladenseite. Sie mieteten ein großes Haus mit Garten in einem wohlsituierten Viertel von Piräus. Ihre drei Kinder besuchten private Kindergärten und Schulen, bezahlt vom National Accreditation Centre. Das Leben war leicht, doch im Stillen ahnte Thanasis manchmal wie brüchig das Eis war, auf dem er sich im griechischen Wohlfahrtsstaat bewegte.Wir und die AnderenAm 20. November 2011 geriet ihre Welt aus den Fugen. Das National Accreditation Centre wurde über Nacht aufgelöst, die Hälfte der Angestellten entlassen. Thanasis Vassilenas hatte das Glück, in eine andere Behörde versetzt zu werden, fiel aber in eine tiefe Depression. Sein Gehalt wurde um 60, das seiner Frau um 30 Prozent gekappt. Alle Vergünstigungen gingen verloren, sodass die Kinder heute in eine öffentliche Schule gehen. Thanasis suchte eine neue Stelle, er suchte vor allem in Paris, hatte dort aber ebenso wenig Erfolg wie im griechischen Privatsektor. Fast alle Firmen erwiesen sich als auf die eine oder andere Weise mit dem Staat verwoben und von der Schuldenkrise betroffen. „Jahrzehntelang zementierte der Staat Strukturen, an denen er schließlich scheiterte“, sagt Thanasis.Aber die Vassilenas und Roussous haben Glück. Sie stehen nicht auf der Straße. Sie müssen nicht an einer Suppenküche auf einem Athener Kirchhof anstehen, doch markiert das abrupte Ende ihres Aufstiegs eine Zeitenwende. Ein Staatsapparat ist implodiert, in dessen Diensten beinahe jeder vierte Erwerbstätige stand. Er begünstigte Freunde und benachteiligte Feinde. Er spaltet in „Wir und die Anderen“, ermöglichte unglaubliche Karrieren, trieb mit Hybris geschlagene Überflieger in den Selbstmord, bekämpfte Korruption und sorgte für Korruption. Ein Staatsapparat, einst geschaffen, um seinen Bürgern zu dienen, wurde zum Selbstzweck. Wer das verstehen will, muss verstehen, wie das Land zu dem wurde, was es heute ist.Es waren die fünfziger Jahre, als der griechische Staat unwiderruflich zum Unternehmer wurde – zunächst für Eisenbahn, Telekommunikation und Stromversorgung. Bald sollte dieser Staat auch Hotels betreiben, Versicherungspolicen abschließen und über seine Banken das Kreditwesen kontrollieren. Private Investoren hatten es schwer. 1950 gab es ungefähr 180.000 Staatsbedienstete – 20 Jahre später waren es etwa 320.000, 1991 dann 700.000. Die Angaben sind geschätzt. Erst 2010 kam es erstmals zur systematischen Zählung aller Staatsangestellten, und man registrierte mehr als 768.000. Dreimal so viel wie in Deutschland, gemessen an der Bevölkerung.Jahre des HonigsDer Staat empfahl sich als Lebensversicherung der Mittelschicht. Man wurde als Beamter nicht reich, fand aber Zeit, einer anderen Arbeit nachzugehen und so das Einkommen zu verdoppeln, unversteuert, versteht sich. Der Staatsapparat erschien wie ein Schlaraffenland, auch wenn in seinen Büros Mangel herrschte – an Toilettenpapier, Seife, Computern, funktionierenden Heizungen. Dennoch träumte fast jeder von einem Beamtensessel.Verglichen mit der Mittelschicht lebten die Menschen auf dem Land in petroleumbeschienener Finsternis. In den fünfziger Jahren trugen Dorfkinder Schuhe aus alten Autoreifen, halfen auf dem Feld, banden geschnittene Weizenähren und brachten Dung mit dem Maulesel nach Hause. Die Häuser ihrer Eltern hatten weder Strom noch fließendes Wasser. Die Toilette, falls es überhaupt eine gab, war ein Anbau im Hof. Wohlstand ließ sich in Kilogramm gepressten Olivenöls messen und an der Zahl der Tiere im Stall. Fleisch gab es allein an Feiertagen. Mancher Ort war nur zu Fuß erreichbar. Erst mit den siebziger Jahren führten Straßen in die pastorale Abgeschiedenheit. Kreischend rannten Scharen von Kindern ersten Autos hinterher. Telefon und fließendes Wasser blieben bis in die frühen Achtziger Luxus.Als 1974 die Militärjunta abdanken muss, kehrt der konservative Politiker Konstantinos Karamanlis aus dem Exil zurück und wird Ministerpräsident. Mikis Theodorakis, Kommunist und Griechenlands berühmtester Komponist, gibt die Parole aus: „Karamanlis oder die Panzer!“ Karamanlis gründet die Partei Nea Dimokratia (ND) und gewinnt die Wahlen. 1981 führt er das Land in die EU, aber die Wahlen kurz darauf gewinnt ein anderer: Andreas Papandreou mit seiner sozialdemokratischen Pasok. Ein Freudentaumel ergreift das Land. Der erste sozialistische Ministerpräsident. Der Sieger zehrt von der Enttäuschung und Verbitterung so vieler, die sich jahrzehntelang sozial relegiert fühlten und jetzt hoffen dürfen. Über Nacht erhöht Papandreou die Renten der Bauern und die Gehälter der Staatsdiener. Seine ersten vier Regierungsjahre nennen die Griechen „Jahre des Honigs“. Brüssel wird zur neuen Einkommensquelle der vom Staat subventionierten Mittelschicht, die Pasok ist zum kollektiven Patron einer ganzen Nation. Wer ihr angehört und einflussreiche Freunde hat, ist heute Lehrer und morgen Kulturstaatssekretär. Noch heute treibt der Name Andreas Papandreou manchem Älteren Tränen in die Augen.1985 warnen Brüssel und der Internationale Währungsfonds, die Griechen lebten über ihre Verhältnisse. Man werkelt am Staatsapparat, ändert hurtig Gesetze. Doch im Wesentlichen bleibt alles, wie es ist. Die Mitgliedschaft in der EU ändert einen Staat, aber sie ändert nicht den Menschen. Kurz vor den Wahlen 1989 stellt Andreas Papandreou über 98.000 Staatsbedienstete ein – das entspricht einem Prozent der Bevölkerung. Jeder neue Beamte bringt fünf Stimmen, so die Rechnung. Aber sie geht nicht auf. Die Nea Dimokratia übernimmt das Ruder und steht vor leer gefegten Staatskassen. Gehälter und Renten können bald nicht mehr ausgezahlt werden. Anleihen sind schwerer aufzunehmen. Die Staatsverschuldung hat sich seit 1981 verdreifacht. Die Finanzlage der Griechen unterminiere deren Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, warnt Jacques Delors, damals Präsident der EU-Kommission. Es kommt zu Sparprogrammen, Generalstreiks, Lohn- und Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst. Drei Jahre später, 1993, ist Andreas Papandreou wieder an der Macht.Die Wirtschaft floriert. Schwarzgeld befeuert sie. Es zirkuliert im ganzen Land. Bis Ende der Neunziger wird beinahe alles mit Bargeld und Schecks bezahlt, Mieten, Autos, Jachten, Häuser. Niemand fragt, woher das Geld kommt. Sogar Renten und die Gehälter der Staatsbediensteten gibt es bar auf die Hand. 1998 lässt Kostas Simitis, der Nachfolger von Andreas Papandreou, ein Haushaltsdefizit von 2,5 Prozent nach Brüssel melden. Zwei Jahre später liegt es angeblich nur noch bei einem Prozent. Die Athener Bilanzen richten sich nach dem Wahlkalender der Politiker, das weiß man in Brüssel, trotzdem nicken die EU-Finanzminister die Berichte ab.Als 2001 der Euro kommt, verbilligt sich schlagartig das Geld. Neben den Staatsschulden – versteckten Krediten mit Hilfe von Goldman Sachs, Krediten für die Olympischen Spiele 2004, Krediten für fällige Kredite – wachsen nun auch die privaten Schulden der Bürger. Es wird importiert und gebaut, was das Zeug hält. In den Dörfern parken vor neuen Häusern neue Jeeps. Nur die Ställe sind die alten, und auf den Feldern arbeiten Migranten. Häuser schießen wie Pilze aus dem Boden. „Die Kykladen ertrinken im Zement“, schreibt die Zeitung Kathimerini. Grundstücke sind leicht zu haben. Man rodet ein Stück Brachland, pflanzt darauf Ölbäume, zieht einen Zaun und zaubert Zeugen herbei, die versichern, dass dieses Land Privatbesitz sei. Seit dem Abzug der Türken Anfang des 19. Jahrhunderts ist der Besitzstand des Staates ungeklärt. Bis heute existiert kein alle Flächen erfassendes Grundbuchamt.Deus ex machinaWas Griechenland im Frühjahr 2012 vor allem braucht – das sind ein Abbau kafkaesker Behörden und ein Kulturwandel, um sich frei zu machen von tiefsitzenden Denkgewohnheiten. Jahrzehntelang haben Politiker ein Netz aus Korruption und Nepotismus erhalten und sollen jetzt abreißen, was sie aufgebaut haben? Jahrzehntelang haben die Bürger aus reinem Eigennutz ihren Patron gewählt und sollen jetzt für das Gemeinwohl stimmen? Inzwischen hängt ein Ermittlungsverfahren gegen Ex-Premier Giorgos Papandreou und seinen einstigen Finanzminister Papakonstantinou in der Luft. Sie stehen unter Verdacht, die Defizite und Auslandsschulden Griechenlands manipuliert zu haben, um Hilfe ins Land zu holen.Voraussichtlich am 6. Mai stehen Wahlen an. Der Kampf um die verbliebenen Ressourcen ist entbrannt. Michalis Chrysochoidis, langjähriger Minister diverser Pasok-Regierungen, entschuldigt sich beim Volk für die Misere. Antonis Samaras, Chef der Nea Dimokratia, meint: „Die Krise ist ein Produkt von uns allen.“ Und Theodoros Pangalos, führendes Mitglied von Pasok, ergänzt: „Wir haben alle zusammen das Geld durchgebracht.“ So einfach ist das.Im antiken Theater schwebten die Götter an einer kranähnlichen Flugmaschine auf die Bühne. Ihr Eingreifen löste die tragischen Konflikte, die der Mensch nicht entwirren konnte. Was Griechenland braucht, ist ein solcher Deus ex machina.